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Treffen im "Tagesspiegel": Ole von Beust (CDU) aus Hamburg, Dieter Salomon (Grüne) aus Freiburg und Barbara Ludwig (SPD) aus Chemnitz.

© Mike Wolff

Was Ole von Beust Klaus Wowereit rät: Gipfeltreffen der Bürgermeister

Es ist so weit: Wowereit geht, Müller kommt. Was muss ein Bürgermeister können, was aushalten? Wir haben Ole von Beust, Dieter Salomon und Barbara Ludwig zum Gipfeltreffen gebeten - ein Gespräch über Großprojekte und eine Standpauke im Zoo.

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Herr von Beust, am Donnerstag tritt Klaus Wowereit als Bürgermeister zurück, wie Sie es vor vier Jahren getan haben. Wie schwer wird der Entzug?

OLE VON BEUST: Ich fühlte mich damals befreit.

Sie sind in kein Loch gefallen?

VON BEUST: Nein. Ich glaube, das passiert nicht so leicht, wenn man selbst bestimmt, dass man aufhört. Etwas anderes ist es, abgewählt oder von der eigenen Partei in die Wüste geschickt zu werden. Manche glauben dann, allen beweisen zu müssen, dass sie doch gut sind, und geraten so in einen permanenten Einmischungszwang.

Ein Tipp, wie man das neue Leben als Privatmann am besten angeht?

VON BEUST: Es ist gut, relativ schnell etwas zu tun zu haben, was einen ausfüllt. Ich berate jetzt Unternehmen. Und, zweitens, sollte man nicht die Illusion haben, dass die ganzen Leute, die einem im Amt nahe sind, das auch bleiben. Viele entfernen sich freundlich, was ich ihnen auch gar nicht übel nehme. Die suchten die Nähe zum Amt und nicht zur Person.

Als Bürgermeister sind ständig eingeladen, sitzen in der ersten Reihe, im Theater, bei Vernissagen und...

VON BEUST: ... ganz vorne zu sitzen hat einen großen Nachteil: Man kann nicht gehen, wenn es einem passt. Wenn der Bürgermeister früher geht, ist es ein Affront.

DIETER SALOMON: Man steht permanent unter Beobachtung. Damit muss man umgehen lernen.

BARBARA LUDWIG: Ich gehe beispielsweise nur noch bei Grün über Fußgängerampeln, auch wenn weit und breit kein Auto zu sehen ist. Manchmal bin ich die Einzige, die wartet. Alle anderen überqueren die Straße und sagen im Vorübergehen ein wenig mitleidig zu mir: „Sie müssen ja stehen bleiben.“

Klaus Wowereit beklagte, dass er nicht mehr öffentlich tanzen würde, obwohl er es gerne tue, nur damit ihn keiner dabei fotografiert.

LUDWIG: Als Bürgermeisterin tanzt man nicht. Einmal im Jahr mache ich eine Ausnahme. Zwei Tage nach Weihnachten gehen immer viele aus meiner Generation, also die um 1960 Geborenen, zusammen aus. Da wird auch getanzt. Davon werden keine Fotos gemacht, und das finde ich gut so.

SALOMON: Ich muss immer tanzen, obwohl ich es weder kann noch mag.

Stehen Bürgermeister Ihrer Meinung nach unter stärkerer sozialer Kontrolle als Minister?

VON BEUST: Ja, weil Sie als Bürgermeister in der Stadt alles verkörpern, was mit Staat verbunden ist: im Guten wie im Schlechten. Damit ist für viele die Erwartung verbunden, dass Sie 24 Stunden lang Vorbild für die deutsche Jugend sind.

Ein Foto von Wowereit wird in den vergangenen Wochen anlässlich der vielen Abschiedsberichte immer wieder gezeigt: Er posiert darauf mit einem Damenpumps in der Hand, als wolle er daraus trinken.

VON BEUST: Ein ungeschicktes Foto, aber es kann passieren. Manchmal drängen die Fotografen einen: „Jetzt setzen Sie sich mal diesen Indianerschmuck auf.“ Oder: „Halten Sie den Spaten doch mal so“...

SALOMON: … und am Anfang denkt man, das müsste man dann auch so machen. Mittlerweile weigere ich mich.

VON BEUST: Das Problem ist nicht das eine Foto. Das ist gesehen und vergessen. Doch mit dem Bild kriegen Sie eine Charakterisierung, die Sie nie mehr loswerden. Seitdem galt Wowereit als der Party-Bürgermeister, das Bild war das Symbol dafür. Ich weiß nicht, wie oft er auf Partys war, geht mich auch nichts an. Wir saßen zusammen im Bundesrat, und da erlebte ich ihn immer als unglaublich gut vorbereitet. Die Imageprägung ist in der Politik ein Problem. Sie haben ein festes Image, warum auch immer, und kaum eine Chance, das loszuwerden – egal, ob es richtig oder falsch ist. Manchmal ist es am besten, man arrangiert sich damit, auch wenn es Käse ist.

Frau Ludwig, wie gut kennen Sie als Parteifreundin Wowereit?

LUDWIG: Wir saßen zwei Jahre gemeinsam im Parteivorstand. Besonders eindrucksvoll war für mich eine meiner ersten Begegnungen. Das war im Zoo von Hannover, vor vielen Jahren. Damals ist er von Gerhard Schröder heftig angegangen worden: Was ihm denn einfiele... Als Fraktionschef der SPD hatte Wowereit gerade die Große Koalition platzen lassen und steuerte auf Neuwahlen zu.

Was hat Schröder als SPD-Chef daran nicht gepasst?

LUDWIG: Dass es nicht abgesprochen war. Ich war parlamentarische Geschäftsführerin in Dresden. Wir Sozialdemokraten aus den Ländern trafen uns regelmäßig. Der Zoobesuch war unser Abendprogramm, und Schröder war das Highlight. Ich kannte Schröder noch nicht so gut und fand die Standpauke außergewöhnlich. Doch Wowereit reagierte gelassen.

Wowereit hatte Machtinstinkt bewiesen. Bei der Neuwahl holte die SPD ein sehr gutes Ergebnis.

LUDWIG: Ja, er war so überzeugt von dem, was er tat, dass die Kritik scheinbar an ihm abperlte.

Von Beust: "Als Bürgermeister ist man Allgemeingut, gehört irgendwie allen"

Ole von Beust, CDU, 59. Er war von 2001 bis 2010 Erster Bürgermeister von Hamburg.. Zunächst regierte er in einer Koalition< mit dem Rechtspopulisten Ronald Schill, später mit den Grünen. Seit seinem Rücktritt ist er Unternehmensberater. Hamburg hat 1,7 Millionen Einwohner und den stärksten Kaufkraftindex der Republik.
Ole von Beust, CDU, 59. Er war von 2001 bis 2010 Erster Bürgermeister von Hamburg.. Zunächst regierte er in einer Koalition< mit dem Rechtspopulisten Ronald Schill, später mit den Grünen. Seit seinem Rücktritt ist er Unternehmensberater. Hamburg hat 1,7 Millionen Einwohner und den stärksten Kaufkraftindex der Republik.

© Mike Wolff

Herr von Beust, braucht ein Bürgermeister in einem Stadtstaat Machtinstikt?

VON BEUST: Ich glaube, wer nur auf Macht aus ist, kommt nicht weit.

Was macht sonst einen guten Bürgermeister aus?

VON BEUST: Ich weiß, es klingt blöd, aber Sie müssen Menschen mögen, ihnen irgendwie etwas Gutes tun wollen. Alle wollen was von Ihnen und stürmen auf Sie ein. Wenn Sie eine innere Abwehr gegen Menschen haben, geht einem das sehr schnell auf den Wecker. Als Bürgermeister ist man Allgemeingut, gehört irgendwie allen.

SALOMON: Das ist auch schön. Man muss es nur abkönnen. Die Leute sind manchmal distanzlos. Sie erkennen einen auf der gegenüberliegenden Straßenseite, kommen rüber, begrüßen einen...

VON BEUST: … oder sie fragen: „Darf ich Sie mal umarmen?“

Haben Sie sich umarmen lassen?

VON BEUST: Natürlich. Ich bin ja kein arroganter Mensch. Wenn einem so viel Sympathie entgegen- gebracht wird, wäre es unfair, nein zu sagen. Letztlich wurde es mir zu viel. Das war auch ein Grund, warum ich nach neun Jahren aufgehört habe: Ich fühlte mich zu sehr okkupiert.

Clint Eastwood, der zwei Jahre Bürgermeister seines Heimatorts war, gab sein Amt auf, weil er die Ineffizienz der kommunalpolitischen Prozesse nicht mehr ertrug. „Wenn Filme so gemacht wären, wie Stadtpolitiker einen Ort verwalten“, sagte er, „dann gäbe es nur noch alle zehn Jahre einen Spielfilm.“

VON BEUST: Ich kenne mich mit der Produktion von Filmen nicht aus. Seit ich aus der Politik ausgeschieden bin, habe ich eine Menge mit Unternehmen zu tun. Da ist mein Eindruck, dass in der Wirtschaft nicht effektiver gearbeitet wird als in der Politik oder der Verwaltung. Im Gegenteil: Aus meiner Sicht sind viele Beamte mindestens genauso gut wie das Management von Unternehmen, was auch daran liegt, dass sie unkündbar sind. Die müssen sich nicht anpassen. Sie können ihre Meinung ohne Risiko vertreten. Ein weiterer Vorzug des politischen Systems ist seine Transparenz. In der Politik wissen Sie: Bei allem, was ich tue, besteht das Risiko, dass es in der Zeitung steht. Das diszipliniert.

LUDWIG: Die Prozesse in den Kommunen sind durchaus effizient. Bei uns in Chemnitz werden Vorlagen, die wir in den Stadtrat einbringen, in der Regel im ersten Anlauf entschieden. Und weil wir schon vorher wissen, dass Stadträte kritische Fragen stellen werden, sind wir gezwungen, die Dinge noch mal von allen Seiten zu betrachten.

In Berlin sehen wir am Flughafen BER, was alles schiefgehen kann, wenn die öffentliche Hand baut.

LUDWIG: Ein Albtraum. Wir bauen in Chemnitz gerade ein Stadion. Nach dem BER-Desaster habe ich zusätzliche Kontrollen eingebaut, etwa eine Stabsstelle bei mir im Rathaus, weil ich so etwas im Kleinen nie erleben will.

VON BEUST: In Hamburg hatten wir etwas Ähnliches mit der Elbphilharmonie. Zum Glück saß ich da nie im Aufsichtsrat.

Das BER-Desaster ist mit der Person Wowereit verknüpft. Zu Recht?

VON BEUST: Das kann ich nicht beurteilen. Als die statischen Probleme der Elbphilharmonie offenbar wurden, sagte ich: „Leute, ich bin Jurist. Ich kann keine Baupläne lesen. Selbst wenn ich mir die statischen Berechnungen angeguckt hätte, hätten sie mir nichts gesagt.“ Man muss als Bürgermeister zusehen, dass man in die operativen Funktionen Leute holt, von denen man mit Überzeugung oder überprüfbar sagen kann, dass sie hervorragend sind. Wenn dann trotzdem Mist passiert, ist es ärgerlich, und als Bürgermeister haben Sie an allem die Schuld. Aber Sie werden ja auch für Dinge gelobt, für die Sie nichts können. Wenn sich das unterm Strich die Waage hält, ist es okay.

Warum explodieren bei kommunalen Großprojekten fast immer die Kosten? Gerade wurde bekannt, dass Berlins U 5 und die Sanierung der Staatsoper jeweils fast 100 Millionen Euro teurer werden.

SALOMON: Solche Projekte haben eine Riesenvorlaufzeit: oft zehn Jahre. Am Anfang gibt es eine Kostenschätzung, und wenn die Baukosten jedes Jahr um 5 Prozent steigen, dann brauchen Sie sich nicht wundern, dass viele Projekte automatisch doppelt so teuer werden wie gedacht.

Ludwig: "Öffentliche Ausschreibungen laufen heute viel professioneller"

Barbara Ludwig, SPD, ist seit 2006 Oberbürgermeisterin von Chemnitz. Die 52-Jährige war Lehrerin und gründete nach der Wende eine alternative Schule. 1991 trat sie in die Partei ein, um, sagt sie, die Schule „zu schützen“. Ludwig war Ministerin in Sachsen. Chemnitz, vormals Karl-Marx-Stadt, ist die drittgrößte Stadt Sachsens.
Barbara Ludwig, SPD, ist seit 2006 Oberbürgermeisterin von Chemnitz. Die 52-Jährige war Lehrerin und gründete nach der Wende eine alternative Schule. 1991 trat sie in die Partei ein, um, sagt sie, die Schule „zu schützen“. Ludwig war Ministerin in Sachsen. Chemnitz, vormals Karl-Marx-Stadt, ist die drittgrößte Stadt Sachsens.

© Mike Wolff

Es heißt, dass Architektur- oder Ingenieurbüros die Ausschreibungen daraufhin durchgehen, für welche Leistungen sie Nachforderungen stellen können. Die Kosten rechnen sie dann einfach erst mal raus und gewinnen den Wettbewerb.

LUDWIG: Inzwischen machen die öffentlichen Verwaltungen Ausschreibungen viel professioneller als noch vor zehn Jahren. Die Leistungsverzeichnisse sind exakter. Das heißt aber nicht, dass Dinge nicht auch mal aus dem Ruder laufen können, zum Beispiel weil man ein Planungsbüro erwischt hat, das nicht ganz so gut ausgestattet war.

VON BEUST: Und als Bürgermeister beschließen Sie solche Projekte nicht alleine. Bei der Elbphilharmonie gab es einen riesigen öffentlichen Druck. Alle waren begeistert und wollten sie unbedingt. Nach einer Ausschreibung war nur ein Unternehmen übrig geblieben. Wir hätten natürlich sagen können: Das ist zu riskant, wir schreiben nochmal aus, um ein weiteres zu haben. Aber das hätte das ganze Verfahren vermutlich um zwei bis drei Jahre verlängert. Dann hätte es geheißen: Das ist typisch für die Stadt, da hat man eine große Idee, und jetzt sind die zu feige, sie umzusetzen.

SALOMON: Mal zur Ehrenrettung der Verwaltung: Wir weihen gerade eine neue Hauptfeuerwache ein. Die war 22 Millionen Euro teuer, und wir sind bei Kosten und Zeit im Rahmen geblieben.

Dafür regt sich Widerstand gegen den Stadionneubau des SC Freiburg.

SALOMON: Da haben plötzlich Leute, von denen man es nie erwartet hätte, ihre Liebe zur Ökologie entdeckt und sich für den Schutz von Magerrasen und Dohlen engagiert. Wir haben alle Einwände der Kritiker untersuchen und begutachten lassen, so wie bisher bei noch bei keinem anderen Projekt. Am 1. Februar wird nun ein Bürgerentscheid stattfinden, das hat der Gemeinderat beschlossen. In Freiburg reicht ein Zebrastreifen, schon haben Sie eine Bürgerinitiative.

Wünschen Sie sich manchmal weniger Mitspracherecht der Bürger?

SALOMON: Es führt kein Weg daran vorbei, dass man die Menschen frühzeitig ins Boot holt. Früher haben die Leute manches geschluckt oder sich nicht interessiert. Das funktioniert nicht mehr. Heute lesen sich die Leute den vermeintlichen Sachverstand im Internet an. Damit muss man sich auseinandersetzen.

LUDWIG: Die Leute beteiligen sich, sobald es etwas gibt, das sie unmittelbar betrifft. Andererseits liegt die Beteiligung bei Oberbürgermeisterwahlen inzwischen deutschlandweit bei unter 50 Prozent. Das war auch bei meiner ersten Wahl 2006 so, und das habe ich persönlich genommen. Ich habe Einwohnerversammlungen und Bürgersprechstunden eingeführt. Trotzdem ist die Wahlbeteiligung nicht gestiegen.

Vermutlich haben die Leute das Gefühl, dass der Handlungsspielraum von Bürgermeistern gering ist.

LUDWIG: Die Leute kommen doch mit allem zu uns. So ohnmächtig erscheinen wir nicht.

Das dringendste Problem in den Großstädten sind die stark steigenden Mieten. Da gibt sich die Politik ignorant oder machtlos. Geringverdiener werden aus den Innenstädten verdrängt, auch in Hamburg.

VON BEUST: Zu meiner Zeit war das Problem noch nicht so virulent. Es gab zwar die Prognose, dass die Stadt leicht wächst. Aber es sollten wohlhabende Menschen kommen. Damals hatten wir sogar noch Leerstände bei den Sozialwohnungen.

Als CDU-Mitglied sehen Sie Gentrifizierung wahrscheinlich nicht als vordringliches Problem.

VON BEUST: Das stimmt so nicht. Im Grunde besteht die Kernaufgabe als Bürgermeister darin, den Laden irgendwie zusammenzuhalten. Egal, woher man politisch kommt. Ganz Reiche hier, Leute ohne Zukunft dort. Das zerreißt eine Stadt. Ich habe mich in erster Linie für die verantwortlich gefühlt, die es alleine nicht schaffen.

Was wäre Ihr Rezept gegen steigende Mieten?

VON BEUST: Das einzige Gegenmittel ist, massiv den Wohnungsbau zu forcieren. Allerdings ohne den Charakter der Stadt kaputt zu machen. Meine Hoffnung ist, dass durch viele neue Wohnungen der Druck auf dem Wohnungsmarkt nachlässt. Mein Nachfolger hat ein Programm aufgelegt, dass jährlich 6000 Wohnungen mehr gebaut werden. Experten sagen, die Preiserhöhungen hätten bereits erheblich nachgelassen. Auf die Größe von Berlin bezogen, müsste die Zahl doppelt so hoch sein. Man erteilt 15 000 Baugenehmigungen und hofft, dass 12 000 Wohnungen gebaut werden.

Herr Salomon, Sie haben vor ein paar Jahren versucht, städtische Wohnungen zu verkaufen. Ein Bürgerentscheid hat das vereitelt.

SALOMON: Wir standen finanziell mit dem Rücken an der Wand. Es drohte, dass ein Staatskommissar eingesetzt wurde, was bedeutet, dass man als Gemeinderat nicht mehr handlungsfähig ist. Wir als Kommunen müssen oft auslöffeln, was Bund und Länder uns eingebrockt haben. Deshalb fordern wir immer wieder: Wenn der Bund Gesetze ändert, die in den Kommunen Kosten verursachen, dann soll gefälligst auch das Geld mitkommen. Zum Beispiel beim Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz. Das allermeiste Geld, das wir in der Stadt ausgeben, ist für soziale Anliegen.

Können wir noch mal zu den steigenden Mieten zurückkommen, denn...

SALOMON: ... wir haben uns alle bei den Bevölkerungsprognosen getäuscht. Als wir vor acht Jahren unseren letzten Flächennutzungsplan verabschiedet haben, hieß es noch, dass die Einwohnerzahl von Freiburg ab 2014 leicht und ab 2020 stark sinkt. Heute wissen wir, dass Freiburg wahrscheinlich bis 2040 wachsen wird, obwohl Deutschland insgesamt aufgrund der Demografie schrumpft. Doch die Einwohner werden sich völlig neu sortieren. Das war so nicht absehbar.

LUDWIG: Wir haben in Chemnitz in den 90ern 60 000 Einwohner verloren. Nach den Prognosen sollten noch viel mehr Menschen gehen. Seit drei Jahren haben wir einen leichten Bevölkerungszuwachs. Das ist psychologisch unheimlich wichtig. Sonst kannten alle immer nur Leute, die gegangen sind. Jetzt trifft man plötzlich auf Leute, die von überall herkommen. Und da fragen sich die Chemnitzer erst mal ein bisschen irritiert: „Und warum kommen Sie nach Chemnitz?“ – „Ja, weil ich hier prima leben kann.“ Die Stadt hat 150 Jahre Industriegeschichte, mit allen Höhen und Tiefen. Wenn man nur Barock will, muss man 70 Kilometer weiter fahren, schon ist man in Dresden.

Salomon: "Wir haben keine Angst vor Berlin"

Dieter Salomon, Grüne, wurde 2002 als erster Grüner Oberbürgermeister in einer deutschen Stadt und amtiert seitdem in Freiburg Zuvor war er Fraktionschef der Grünen im Stuttgarter Landtag. Der 54-Jährige wuchs im Allgäu auf, wo die Eltern eine Gastwirtschaft führten. Freiburg im Breisgau ist mit seinen 220.000 Einwohnern viertgrößte Kommune Baden-Württembergs.
Dieter Salomon, Grüne, wurde 2002 als erster Grüner Oberbürgermeister in einer deutschen Stadt und amtiert seitdem in Freiburg Zuvor war er Fraktionschef der Grünen im Stuttgarter Landtag. Der 54-Jährige wuchs im Allgäu auf, wo die Eltern eine Gastwirtschaft führten. Freiburg im Breisgau ist mit seinen 220.000 Einwohnern viertgrößte Kommune Baden-Württembergs.

© Mike Wolff

Sie geben gerade eine gute Imagebotschafterin ab. Auch ein wichtiger Teil der Bürgermeisterrolle?

LUDWIG: Jedenfalls ist das Image für die Entwicklung der Stadt nicht zu unterschätzen. Dessen sind wir uns sehr bewusst. Wir hatten einen schweren Start nach der Wiedervereinigung, weil der Maschinenbau zusammenbrach. Heute haben wir pro Kopf ein höheres Gewerbesteuereinkommen als Dresden und Leipzig. Wir brauchen Leute, die nach Chemnitz kommen. Und bleiben. Deshalb haben wir unter anderem den Etat für Stadtmarketing um das Zehnfache erhöht – auf 200 000 Euro.

Die „Süddeutsche“ attestiert Chemnitz ein besonders schlechtes Image.

LUDWIG: Wenn Journalisten ein Beispiel für Negatives brauchen, sagen sie: „Fahren wir nach Chemnitz, da findet sich schon was!“ Die haben die Karl-Marx-Stadt im Kopf, für die verbindet sich mit Chemnitz alles Ostige.

VON BEUST: Frau Ludwig, kennen Sie eigentlich dieses Lied: „Was machen wir zu Pfingsten? / Wenn die Wiesenblüten blühen / Wir fahren nach Karl-Marx-Stadt / Über Autobahnen und Schienen“? Ich sammle so DDR-Sachen.

LUDWIG: Klar, kenn’ ich.

Sicher kennen Sie auch die Chemnitzer Band „Kraftklub“, die mit dem Lied „Ich will nicht nach Berlin“ bekannt wurde. Beschreibt das das Lebensgefühl der jungen Menschen Ihrer Stadt?

LUDWIG: Die Band kenne ich natürlich. Wir treffen uns oft, auch weil man sich in unserer Stadt über den Weg läuft. Ich bin aber nicht der Lautsprecher der Band, weil die sich richtigerweise auch von niemandem vereinnahmen lassen wollen. Ich glaube, Kraftklub trifft das Lebensgefühl vieler junger Menschen in Deutschland. Sonst wären sie nicht so erfolgreich.

Herr Salomon, fühlen Sie sich in Freiburg an den Rand gedrängt, da Berlin immer dominierender wird?

SALOMON: Wir sind 750 Kilometer weg, ich habe keine Angst vor Berlin. Für uns in Freiburg ist das einfach eine geile Stadt.

Berlin hat Hamburg den Rang abgelaufen, Herr von Beust, oder?

VON BEUST: Ehrlich gesagt, finde ich diesen Vergleich nervig. Eigentlich müssten die Städte in ihrer Unterschiedlichkeit und ihrer Nähe eine gemeinsame Strategie entwickeln. Stattdessen beharkt man sich. Berlin ist urbaner, internationaler, aber auch aggressiver. Hamburg ist gelassener und wirtschaftlich stark. Das passt gut zusammen. Warum macht man keine abgestimmte Wissenschaftspolitik? Nebenbei, es wäre eine Riesenchance gewesen, wenn beide Städte sich gemeinsam für die Olympischen Spiele beworben hätten. Man hätte Geld sparen können. Stattdessen haben wir so einen provinziellen Pseudowettbewerb.

Der neue Bürgermeister von Berlin ist blasser als die Stadt. Ist Michael Müller mehr als ein Übergangskandidat?

VON BEUST: Ich kenne ihn nicht persönlich. Aber wir haben im Moment einen Trend zu den exekutiv denkenden Politikern, nicht zu den Visionären. Wenn Sie Weil in Niedersachsen nehmen oder Albig in Schleswig-Holstein – alles ruhige, nüchterne Leute. Denen traut man zu, den Apparat gut zu leiten. In Berlin ist das vermutlich auch ein Reflex auf den BER, dass die Leute sagen: Lieber gut verwaltet und kein Risiko eingehen.

Die großen Kanzler der alten Bundesrepublik waren zuvor Bürgermeister, Adenauer in Köln, Brandt hier in Berlin. Schmidt war immerhin Innensenator in Hamburg. Kann man sich durch ein Bürgermeisteramt nicht mehr zu Höherem qualifizieren?

VON BEUST: Auf Bundesebene sind die Karrierestrukturen andere: Die Leute sind auf Bundespolitik abonniert. Die sitzen im Bundestag und werden auch mal Staatssekretär in einem Ministerium. Als Bürgermeister haben sie gar nicht die Zeit, eine Hausmacht auf Bundesebene aufzubauen. Dabei glaube ich, dass man mit einer Bürgermeistererfahrung gut ein Bundesamt ausüben könnte. Probleme zu lösen und mit Gremien umgehen, das lernt man auf kommunaler Ebene aus dem Effeff.

LUDWIG: Zwischen Kommunalpolitik und Landespolitik gibt es eine gewisse Durchlässigkeit. Stephan Weil, der niedersächsische Ministerpräsident, war zuvor Bürgermeister von Hannover.

Von Beust: "Besser König im kleinen Reich als Narr bei Hofe"

Treffen im "Tagesspiegel": Ole von Beust (CDU) aus Hamburg, Dieter Salomon (Grüne) aus Freiburg und Barbara Ludwig (SPD) aus Chemnitz.
Treffen im "Tagesspiegel": Ole von Beust (CDU) aus Hamburg, Dieter Salomon (Grüne) aus Freiburg und Barbara Ludwig (SPD) aus Chemnitz.

© Mike Wolff

Sie waren bereits im Landtag. Langweilen Sie sich manchmal bei Stadtratssitzungen?

LUDWIG: Im Gegenteil. Mir liegt das Konkrete. Mir gefällt, dass ich hier zu den Menschen und den Dingen, über die wir entscheiden, eine unmittelbare Beziehung habe. Ich bringe eine Sache auf den Weg, gehe zum Spatenstich, zum Richtfest. Da brauche ich auch keinen Redenschreiber. Ich kenne Projekte so gut, dass ich aus dem Kopf ihre Geschichte erzählen kann. Als Ministerin fühlte ich mich immer als so eine Art Wanderpokal. Jeden Tag woanders. Da dauert es Jahre, bis man enge Beziehungen aufbaut.

VON BEUST: Besser man ist König im kleinen Reich als Narr bei Hofe.

SALOMON: Ich war auch mal Fraktionschef im Landtag in Stuttgart. Wenn ich mir heute überlege, was ich damals dort herumgeholzt habe! Als Bürgermeister habe ich eine völlig andere Rolle. Ich habe zwar mein Parteibuch, aber ich bin bei der einen oder anderen Entscheidung auf die CDU, die SPD und die Freien Wähler angewiesen. Deshalb gehen wir in Freiburg pfleglich miteinander um. Das ist auch ein Grund, warum man, wenn man so ein Amt länger hat, für Parteipolitik verdorben ist.

Verdorben, ein starkes Wort.

SALOMON: Ich mag die parteipolitischen Zuspitzungen nicht mehr. Sie sind zu holzschnittartig. Als Bürgermeister bemühe ich mich zu integrieren – und nicht zu spalten.

LUDWIG: Ich entscheide danach, was ich für die Stadt für am besten halte.

Haben Sie mal etwas durchgesetzt, was ausdrücklich nicht der SPD-Linie entsprach?

LUDWIG: Ich habe ein Schwimmbad geschlossen. Da war ich aber noch nicht Oberbürgermeisterin, sondern Bürgermeisterin für Kultur und Sport.

So was machen sonst nur CDU und FDP.

LUDWIG: Das Schwimmbad war teuer und wurde kaum genutzt. Die Schließung habe ich nur durchsetzen können, weil ich völlig unbedarft an die Sache rangegangen bin. Mein Oberbürgermeister sagte: „Das schaffst du nie!“ Ich war zuvor im Landtag gewesen, Oppositionspolitikerin, die immer wusste, was richtig ist. Zum ersten Mal hatte ich eine konkrete Verantwortung und....

...dann haben Sie es einfach mal gemacht.

LUDWIG: Und es hat funktioniert. Das Schwimmbad wurde aber nur zur Hälfte abgerissen. Die andere Hälfte steht bis heute, da ist eine Kneipe drin.

VON BEUST: Entschuldigen Sie mich. Ich muss zum Maritimen Gipfel im Adlon, eine Rede halten.

Herr von Beust, haben Sie die Rolle des Bürgermeisters ganz abgestreift?

VON BEUST: Manchmal beobachte ich an mir den Reflex, mein Handy zu zücken, wenn ich in der Stadt unterwegs bin und irgendwas nicht klappt. Früher habe ich in solchen Situationen im Amt angerufen und gesagt: „Was ist denn hier los, Leute? Macht mal was!“ Es war dann auch ganz schnell jemand da und hat das Problem beseitigt.

Zum Beispiel?

VON BEUST: Ganz banal: Bei einer ewigen Baustelle, an der sie jeden Tag vorbeikommen. Dauernd ist Stau, und man sieht keine Arbeiter. Da juckt es mich heute noch in den Fingern.

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