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Werner Küstenmachers Ratgeber „Simplify your life“ wurde in 40 Sprachen übersetzt und hat eine Auflage von rund vier Millionen Stück.

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Weltbestseller "Simplify your life": Der Ordnungshüter

Er ist ein Denker der reinen Effizienz, seine Botschaft: Alles wegschmeißen! Werner Tiki Küstenmacher hat die Bibel des Aufräumens geschrieben.

Noch einmal anfangen dürfen! Viele halten den Beginn eines neuen Jahres für den Beginn einer neuen Ordnung. Ordnung ist, wie jeder weiß, etwas für Nervenschwache. Der erste war Gott.

Als er das Chaos nicht mehr aushielt, begann er mit der Schöpfung. Er räumte auf. Eva links, Adam rechts, in der Mitte ein Baum, unten die Erde, obendrüber der Himmel. Sehr übersichtlich. Kurz gesagt: das Paradies. Das Ideal aller Menschen, die sich nach einer großen, ja der uranfänglichen Ordnung sehnen, die ihr Leben in fremde Hände zurücklegen möchten. Früher waren das die Hände des Herrn, heute sind es die der Ratgeber. Der Stil ist ungefähr der gleiche geblieben.

Werner Tiki Küstenmacher zum Beispiel, „Simplify your life“. Allein wie das anfängt: „Liebe Leserin! Lieber Leser! Das Buch, das Sie hier in den Händen halten, wird eines der wichtigsten Bücher in Ihrem Leben werden.“ Fordert nicht bereits die intellektuelle Selbstachtung des Mittelwesteuropäers älteren Typs, einen solchen Leitfaden auf der Stelle wieder zu schließen? Das Merkwürdige ist nur: Ungefähr vier Millionen Menschen auf der Welt haben seit 2001 das Gegenteil getan. „Simplify your life“ wurde in 40 Sprachen übersetzt. Dabei ist die Botschaft des Buches im Grunde recht übersichtlich: Wegschmeißen! Wegschmeißen! Wegschmeißen!

Der Teufel ist der Stapel

Küstenmacher. Also einer, der Küsten macht? Der Ertrinkenden signalisiert, hier ist ein Strand, hier kannst du an Land gehen! Strände sind vor allem eins: einfach. Nur Sand, sonst fast nichts. Jeder Strand ist demnach ein Simplify-Strand. Darum haben wir Strände so nötig. Die Industrie- und Postindustriegesellschaften sind voll von Ertrinkenden, und keiner sage, er gehöre nicht dazu. „Simplify your life“, eine Sekundärbibel also.

Der Vorteil im Fall des Verfassers einer Sekundärbibel ist, dass er Interviews gibt. Eigentlich müsste man ihn zu Hause besuchen. Wie sieht die Original-Simplify-Wohnung aus? Und vor allem: Wo steht die Hängeregistratur? Die Hängeregistratur ist im Werner-Tiki-Küstenmacher-Büro-Universum der Stellvertreter Gottes. Ohne sie gibt es kein Heil, ohne sie ist keine Rettung. Der Teufel ist der Stapel.

Im Augenblick ist der Autor nicht zu besuchen, er arbeitet, er schreibt ein neues Buch. „Simplify your life“ war ungefähr das siebzigste. Inzwischen ist er schon mehr als 30 Bücher weiter, das wichtigste heißt „Limbi. Der Weg zum Glück führt durchs Gehirn“. Der Titel ist ein wenig ungenau. Es müsste heißen: „Limbi. Der Weg zum Glück führt durchs Stammhirn“. Wie muss man sich einen Mann vorstellen, der das limbische System „Limbi“ nennt? Nein, der Autor lässt sich im Augenblick nicht besuchen, aber er geht ans Telefon.

Es gibt keine Freiheit ohne Chaos

„Herr Küstenmacher, Kinder gehören zu den natürlichen Feinden jeder Ordnung. Kein Kind räumt freiwillig auf. War das bei Ihnen anders?“ Kurze Ewigkeitsstille in der Leitung, gefolgt von der Auskunft einer ruhigen, dunklen, überlegten, sehr angenehm suggestiven Stimme, dass ihr Inhaber als Kind lange kein eigenes Zimmer besaß. Die Wirkung beschreibt er wie folgt: „Ich musste immer alles wegräumen.“ Vielleicht würde man einen wie ihn heute wegen posttraumatischer Störung behandeln, aber das wäre voreilig. Vielen seiner Freunde ging es besser, sie hatten einen Raum ganz für sich; Ordnung war ein Wort, das dort nichts verloren hatte. Das Seltsame aber war: „Ich fühlte mich unangenehm berührt.“ Zu chaotisch. Man könnte es auch die frühe Erfahrung negativer Freiheit nennen.

Es gibt keine Freiheit ohne Chaos, und doch hat Letzteres immer zwei Seiten: eine schöpferische und eine zerstörerische. Kinder, indem sie spielen, leben die schöpferische; zurück bleibt die andere, die, für die sich in den Zimmern der Freunde kein Verantwortlicher fand. Im Vorwort seines Buches hat Küstenmacher den Eröffnungssatz, dass der Leser hier eines der wichtigsten Bücher seines Lebens in den Händen halte, gleich noch einmal wiederholt, wahrscheinlich aus Respekt vor denen, die die Diagnose Demenz erhalten haben, überhaupt ist Küstenmacher ein sehr höflicher Mensch. Aber einen wirklich gemeinen Satz hat er auch in seinem Vorwort geschrieben: „Viele Menschen finden den Sinn ihres Lebens nicht, weil sie zu komplizierte Fragen stellen.“ Das ist schon sehr böse.

Bloß was, wenn er recht hat? Der eher theoretische Typus versinkt angesichts des Chaos in Betrachtungen über das Chaos, über dessen beide Pole. Er wird erwägen, dass Nietzsches Begriff des Dionysischen eigentlich der des Chaos ist, das Lebensgebende wie das Zerstörerische zugleich beinhaltend. Er könnte sich weiterhin klarmachen, dass sogar der Gottesbegriff der Mystiker eigentlich der des Chaos ist: Grund und Abgrund in einem. Meister Eckhart spricht von der Wiedergeburt Gottes in der Seele. Dass solche Niederkünfte sich nur in unaufgeräumten Seelenhaushalten ereignen, gehört zu ihren Voraussetzungen. – Und? Was nützt das?

Jedem seine private Firmenzentrale!

Alles nur Gerümpel. Sogar Bücher darf man wegschmeißen, sagt Werner Tiki Küstenmacher.
Alles nur Gerümpel. Sogar Bücher darf man wegschmeißen, sagt Werner Tiki Küstenmacher.

© Doris Spiekermann-Klaas, Montage: Sabine Miethke

Die alltagspraktische Relevanz solcher Einsichten geht zugegebenermaßen gegen null. Und Küstenmacher dachte wohl damals schon das Gleiche wie heute: Herumliegende Sachen deuten „auf nicht getroffene Entscheidungen“. Hätten wir so einen früher eigentlich mitspielen lassen?

Er wohnt in Gröbenzell bei München; und wer „Simplify your life“ gelesen hat, weiß auch, wo er arbeitet: „Chefs von Großunternehmen wählen für ihr Büro meist das oberste Stockwerk des höchsten Firmengebäudes – so wie bei Tieren das ranghöchste den höchsten Platz auf einem Baum oder Felsen innehat.“ Demokratie ist, wenn alle das Recht haben, oben zu sitzen. Darum bauen die meisten ihre Dachgeschosse aus, und genau dahin gehört Küstenmacher zufolge der Arbeitsplatz zu Hause. Es ist der gottnächste Punkt, der die Illusion des Überblicks gewährt. Jedem seine private Firmenzentrale!

Was dem Autor zufolge keinesfalls auf einen Dachboden gehört, sind Souvenirs, abgetragene Kleider und sonstige Dinge von gestern. Werner Tiki Küstenmacher ist überhaupt ein großer Feind der Vergangenheit in menschlichen Wohnungen. Er nennt die Dinge von gestern „Gerümpel“. Und über dessen Eigentümer weiß er: „Am meisten Geld kostet Gerümpel aber dadurch, dass Sammlernaturen beruflich häufig in schlecht bezahlten Positionen stecken bleiben.“ Man könnte dagegenhalten: Nur wer eine Vergangenheit hat, hat auch eine Zukunft.

Küstenmacher fehlt natürlich die Erfahrung der Wende im Osten. 1990 entsorgten die Ex-DDR-Bürger ihr Leben. Simplify your life! Sie hatten noch kein Buch von Werner Tiki Küstenmacher gelesen, aber ganze Biografien standen plötzlich neben der Mülltonne.

Der Mensch ist der Schnittpunkt zwischen Markt und Müll

Werner Tiki Küstenmacher sagt, man darf, man muss auch Bücher wegschmeißen. Das ist gewissermaßen die Gegenposition zu Heinrich Heine: „Wo man Bücher verbrennt, verbrennt man am Ende auch Menschen.“ Moment mal. Ist Verbrennen nicht etwas anderes, etwas ganz anderes als Wegschmeißen? Die weltanschaulichen Fundamentalisten würden jetzt sagen, Menschen werden in unseren Gesellschaften massenhaft weggeschmissen, aber sie werden nicht mehr verbrannt. Das ist vielleicht die kürzeste Formel für den zivilisatorischen Fortschritt.

In modernen Gesellschaften ist der Mensch der notwendige Schnittpunkt zwischen Markt und Müll: der Konsument. Wer aber nicht einmal diese Position mehr einnehmen kann, ist draußen. Und sage niemand, ein Konsument sei nicht produktiv. Die produktive Seite eines jeden Konsumenten ist, dass er Müll hervorbringt. Und um dessen mentale Entsorgung wiederum kümmert sich Küstenmacher. Schon klar, so denken Menschen, die zu komplizierte Fragen stellen, weshalb sie nie den Sinn des Lebens finden werden. Einfache Frage also: „Herr Küstenmacher, wären Sie gekränkt, wenn Sie ,Simplify your life‘ in einer Mülltonne entdecken würden?“

„Aber nein“, ruft der Autor mit Emphase, „überhaupt nicht!“ Es klingt vollkommen aufrichtig, fast erleichtert, und er fügt hinzu, irgendwann sei ein Buch schließlich „abinvestiert“. Abinvestiert. Darauf wäre Heine sicher nie gekommen.

Für Werner Tiki Küstenmacher ist das Leben wie eine Geburtstagstorte; in „Simplify your life“ hat er sie gezeichnet. Acht Schichten übereinander, die unterste ist am größten, das ist „Stufe 1: Ihre Sachen“, in der Mitte befinden sich „Stufe 3: Ihre Zeit“ sowie „Stufe 4: Ihre Gesundheit“ und ganz oben, wo die kleine Krone ist: „Stufe 8: Ihre Spiritualität“.

Was würde Jesus dazu sagen?

Das Geld sei „eine unmittelbare Veräußerlichung innerseelischer Prozesse“ glaubt der Simplifyer Küstenmacher.
Das Geld sei „eine unmittelbare Veräußerlichung innerseelischer Prozesse“ glaubt der Simplifyer Küstenmacher.

© imago/imagebroker

Im Prinzip widerspricht die Pyramide nicht den Wertschätzungen der Tradition, ganz unten ist die Materie, ganz oben ist der Geist, nicht das Geld. Das Geld muss sich mit der Stufe zwei begnügen, und doch wünschte man sich, Küstenmacher würde jetzt statt mit einer potenziell den Sinn des Lebens verpassenden Leserin mit Jesus telefonieren und müsste ihm persönlich seine Thesen erläutern: „Geld, das für Dinge ausgegeben wird, die nicht selbst wieder Geld erzeugen, ist tot. Der vitale Kreislauf des Geldes wird damit unterbrochen.“ Oder: „Unglückliche Menschen sorgen instinktiv für ein Minus auf ihrem Konto.“ Außerdem glaubt er, dass Geldprobleme in Wahrheit „Wirklichkeitsprobleme“ sind. Und dass Geld „eine unmittelbare Veräußerlichung innerseelischer Prozesse“ ist, glaubt er auch. Plötzlich versteht man, warum so viele Unternehmen ihn einladen. Er ist ein Denker der reinen Effizienz. Der Autor gehört zu den 100 meistgebuchten Rednern Deutschlands und wurde 2009 in die Hall of Fame der „German Speakers Association“ aufgenommen. Aber was würde Jesus dazu sagen? Der hatte ein massives Wirklichkeitsproblem – das alte Rom gleicht unserer Wirklichkeit auf beunruhigende Weise –, aber kein Geldproblem.

Mir doch egal, antwortet mehrheitlich die Gegenwart; Küstenmacher kann das nicht. Denn ursprünglich ist er Pfarrer. Und eigentlich macht er noch immer dasselbe. Ein Pfarrer redet, vor allem sonntags, und leistet Lebenshilfe. Der Küsten-Macher redet vor allem wochentags und leistet Lebenshilfe. Nur dass die seine nicht mehr aus nur einem Satz besteht: Jesus ist der Christus.

Die ultimative Ordnung herrscht im Sarg

Seine Eltern, sagt der bei der Arbeit Gestörte, waren eher Gewohnheitschristen. Er aber fand im Glauben den Rückhalt seines Lebens, zuerst in der evangelischen Jugend, bald auch im CVJM, dem Christlichen Verein Junger Männer. Für den CVJM war die evangelische Jugend eine Organisation der Ungläubigen, für die evangelische Jugend war der CVJM der Stoßtrupp des christlichen Fundamentalismus. Ihm gefiel es bei beiden.

Andere an seiner Stelle hätten nun begonnen, die viel zu komplizierten Fragen zu stellen – das lag ohnehin in der Luft, Küstenmacher war in den Sechzigern jung –, doch er machte es anders: „Ich versuchte, eine Bresche zu schlagen.“ Das Simplify-Prinzip war gefunden!

Werner Tiki Küstenmacher ist ein grundsympathischer, kluger Mann. Und er versteht wirklich viel vom Aufräumen. Er hat eine Frau geheiratet, die besaß das gleiche Regalsystem wie er: Lyndia. Seins war unbehandelt, das ihre lackiert. Zu wissen, was man alles wegwerfen darf – notfalls auch einen Stapel mit ungebügelter Wäsche –, gibt ein ganz neues Gefühl von Freiheit. Man muss es nicht einmal gleich machen, aber man weiß, dass man es könnte. Nur als Welterklärer überschreitet Küstenmacher entschieden den Rahmen seiner Hängeregistratur.

Der erfolgreichste Simplifyer ist eh nicht Küstenmacher. Der erfolgreichste Vereinfacher betritt die Bühne ganz zuletzt. Die größte, die ultimative Ordnung herrscht im Sarg. Da liegt nichts mehr rum außer dem Lebensvereinfacher selbst. Zwei Bretter, eins oben, eins unten, Himmel und Erde. Kein Apfelbaum. Kein Paradies.

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