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Nachlassverwalterin. Elisabeth Förster-Nietzsche (1846–1935) inszenierte und lenkte den Kult um ihren berühmten Bruder.

© Klassik Stiftung Weimar, Goethe- und Schiller-Archiv

Wer war Elisabeth Nietzsche wirklich?: Ihr Wille zur Macht

Sie war die kleine Schwester von Friedrich Nietzsche und liebte ihn abgöttisch – bis der Philosoph Louise von Salomé verfiel, "dieser Larve von einem Menschen". War Elisabeth Nietzsche ein Monster?

Wer hätte denn einen miserableren Ruf als sie? Friedrich Nietzsches kleine Schwester ist die vielleicht bestgeschmähte Frau der deutschen Geschichte. Eine protofaschistische Fälscherin, eine Spießerin, die ihren Bruder auf dem Gewissen hat. So weiß es die Nachwelt. „Niemand hat sich an dem Andenken Nietzsches schwerer vergangen als seine Schwester“, urteilte der Sachverständige Karl Schlechta. Und was sagt der Philosoph selbst dazu?

An seinem 44. Geburtstag beginnt Friedrich Nietzsche seine Autobiografie, keine zwei Monate bevor er sich in Turin vor aller Augen mit einem Pferd verbrüdern wird. Selbst seine Mutter hat in diesem Jahr, 1888, seinen Geburtstag vergessen, er ist sein einziger Gast. Friedrich Nietzsche erzählt sich sein Leben, und die übrigen Familienmitglieder porträtiert er so: „Wenn ich den tiefsten Gegensatz zu mir suche, die unausrechenbare Gemeinheit der Instinkte, so finde ich immer meine Mutter und Schwester, – mit solcher canaille mich verwandt zu glauben wäre eine Lästerung auf meine Göttlichkeit.“ Formulieren wir es so: Das letzte Zeugnis ihres Bruders spricht nicht für Elisabeth. „Ecce homo“ erscheint dann vorerst doch nicht, wegen akuten Wahnsinns des Autors.

Elisabeth empfängt die Nachricht von der neuen geistigen Façon ihres Bruders in Paraguay, wo sie mit ihrem Mann mitten im Urwald ein neues Deutschland errichten will, ein Nueva Germania.

Noch der Dümmste heiratet

Dass Elisabeth doch noch geheiratet hat, grenzt an ein Wunder. Ein Mädchen kommt auf die Welt, um zu heiraten, wusste ihre Mutter. „Ich nicht!“, antwortete Elisabeth. Es geht zu selten gut aus, hatte ihr Bruder immer gewarnt. Und: Noch der Dümmste heiratet. Sollte uns das nicht zu denken geben?

Ja, Lieschens Ehe war ein Wunder. Leider konnte die Mutter sich nicht recht freuen. Was hatte sie für hoffnungsvolle Kinder und was ist aus ihnen geworden! Solange noch Zeit war, wollten sie nicht und jetzt griffen sie nach jedem windschiefen Strohhalm. Eine russische Halbhure mit intellektuellen Neigungen (Lou von Salomé) und ein aus dem Schuldienst entlassener, in den Dschungel geflüchteter Antisemit. Wahrscheinlich spricht schon halb Naumburg über die arme Frau Pastor, deren überkluge Kinder sich immer für etwas Besseres hielten. Nun sehe man, was dabei herauskommt. Welches Mädchen nimmt schon den Sohn, diesen dauerleidenden akademischen Frührentner, der immer Kopfschmerzen hat wie eine derangierte Gesellschaftsdame? Und nun ist er auch noch verrückt geworden.

Elisabeths Reaktion im Dschungel: „Wenn ich nur fortkönnte und Geld zur Reise hätte ... Es quält mich beständig der Gedanke, daß vielleicht das Schrecklichste vermieden worden wäre, wenn ich drüben geblieben wäre.“ Elisabeths feste Überzeugung lautet: Ihr Bruder sei nicht verrückt, er habe nur eine Schlafmittelvergiftung. Ja, sie fühlt sich schuldig, schuldig durch Abwesenheit: „Er hat mir nie ein unfreundliches Wort gesagt, zum Dank dafür habe ich das arme Herz seinem Schicksal überlassen.“ Wenn sie wüsste!

Nietzsche, dieser Teufel

Der eine sagt „Canaille“, die andere „das arme Herz“. Man könnte es als innerfamiliäre kognitive Dissonanz durchgehen lassen, das kommt, wie die besten Familien sagen, in den besten Familien vor, doch die Sache gewinnt nur allzu bald eine gewisse, beinahe welthistorische Dimension.

Denn spätestens jetzt, 1889, beginnt ein Virus in ganz Europa zu grassieren, das binnen kürzester Zeit die besten jungen Leute aller Nationen befällt: das Nietzsche-Virus. Es ist das erste und voraussichtlich das letzte Mal, dass ein Philosoph, ein Professor der Altphilologie gar, solche Wirkungen erzielt. Zu den akut Infizierten gehören André Gide und Paul Valéry, Miguel Unamuno und Ortega y Gasset, Maxim Gorki, George Bernhard Shaw, Stefan George, Rainer Maria Rilke, Heinrich und Thomas Mann... Nein, eine Aufzählung ist unmöglich. Harry Graf Kessler, Elisabeths Freund bis zuletzt, hat den Beginn des Krankheitsverlaufs so beschrieben: „Zu Anfang war unser Gefühl eine Mischung von angenehmem Gruseln und staunender Bewunderung vor dem Monsterfeuerwerk seines Geistes, in dem ein Stück nach dem anderen unseres moralischen Rüstzeugs in Rauch aufging.“ Ein gefährliches Spiel.

Und so kommen die etwas Älteren etwas später auch schnell dahinter, wer wirklich schuld ist am Ausbruch des Ersten Weltkriegs. In den Augusttagen 1918 steht in der Auslage eines großen Londoner Buchhändlers am Piccadilly die 18-bändige englische Nietzsche-Gesamtausgabe, darüber ist zu lesen: „The Euro-Nietzschean War. Read the Devil, in order to fight him the better“.

Anfang der 20er Jahre betritt ein Nietzsche-Leser der ersten Stunde das Parkett der europäischen Politik, sein Name ist Benito Mussolini. Und dann kommt noch einer, der diesen Autor höchstwahrscheinlich nie las, aber er hat von ihm gehört: Es ist Adolf Hitler. Ist Friedrich Nietzsches Hauptwerk „Der Wille zur Macht“ nicht geradezu eine Art philosophische Handreichung zur Begründung des Nationalsozialismus?

Seine Schwester, die Fälscherin

Was aber, darf man nun fragen, hat das alles mit Nietzsches Schwester zu tun? Nun, Elisabeth Förster-Nietzsche hat den „Willen zur Macht“ mitherausgegeben. Und sie bekommt seit 1932 nicht nur einmal Besuch von Adolf Hitler. Elisabeth Förster-Nietzsche ist inzwischen nun seit fast 40 Jahren die Leiterin des Nietzsche-Archivs zu Weimar, drei Mal für den Nobelpreis vorgeschlagen. Ein junger Mitarbeiter schildert den Aufenthalt des „Führers“ am 20. Juli 1934, da ist sie 88 Jahre alt: „Der Staatsmann im Hause des ersten Staatsdenkers: und doch nicht als Politiker bei dem Philosophen, sondern als gütig-freundlicher und persönlichster Besucher bei der in fast unwirkliches Greisenalter erhobenen ,Schwester’ ... So mag in alten Zeiten eine große Mutter ihren großen Sohn, eine Prophetin einen Helden empfangen haben ...“

Der Urheber dieser hirnerweichenden Prosa heißt Karl Schlechta, es ist jener längst erwähnte Karl Schlechta, der im westlichen Nachkriegsdeutschland der 50er Jahre eine dreibändige Nietzsche-Ausgabe herausgeben und mit einem philologischen Nachwort versehen wird. Aus diesem Nachwort erfährt die Bundesrepublik: Alle Schuld an den Missverständlichkeiten und Unmissverständlichkeiten des Philosophen Friedrich Nietzsche trifft seine Schwester, die Fälscherin aus Leidenschaft. Der „Spiegel“ bringt eine zehnseitige (!) Titelgeschichte.

Der Hauptvorwurf lautet: „... sie hat die philosophischen und politischen Meinungen ihres Bruders verfälscht, sie hat außerdem unsachverständig und parteiisch aus Manuskriptfragmenten ihres Bruders jenes Buch zusammengestellt und ihm den Titel gegeben, das allen denen als Hauptwerk Nietzsches dienen mußte, die den Philosophen als Autorität für nationalistische Machtpolitik gewinnen wollten, den ,Willen zur Macht‘.“ Alle Legitimation, jenes unselige Werk herauszugeben, sei erschlichen. Das nun kann man so nicht sagen.

"Der Herrenmensch" und "die blonde Bestie"

Nietzsche und Mutter Franziska im Mai 1892.
Nietzsche und Mutter Franziska im Mai 1892.

© akg

Am 2. September 1886 schreibt Nietzsche der Schwester: „Für die nächsten vier Jahre ist die Ausarbeitung eines vierbändigen Hauptwerks angekündigt, der Titel ist schon zum Fürchten-machen: ,Der Wille zur Macht. Versuch einer Umwerthung aller Werthe’. Dafür habe ich ALLES nötig, Gesundheit, Einsamkeit, gute Laune, vielleicht eine Frau.“ Das ist doch mal eine Aussage.

Und selbst, wenn Elisabeth diesen Brief vergessen haben sollte, kaum dass sie wieder dauerhaft deutschen Boden betrat, erklärt ihr Nietzsches vertrautester Freund Heinrich Köselitz die Aufgabe der Zukunft: Einfahrt in das Bergwerk des Nachlasses ihres Bruders, „es werden gewiss noch 5, 6 Bände zu je 400 Seiten sich daraus ergeben: und zwar würde das Ganze dem geplanten Werke ,Der Wille zur Macht‘ entsprechen.“

„Studien und Fragmente“ steht unter der Erstausgabe von 1901. Dass es sich um eine Kompilation handelt, ist also von Anfang an deutlich, auch dass Nietzsche mehrere Gliederungen dafür entwarf. Elisabeth: „Wir haben schließlich die einfachste und durchsichtigste Formulierung gewählt.“ Der vierte Gliederungspunkt lautet: „Zucht und Züchtung“. Wem fielen da nicht gleich „der Herrenmensch“ und „die blonde Bestie“ ein?

Doch mit oder ohne Elisabeth: Der Wille zur Macht ist das eindeutige Hauptmotiv des Nietzsche’schen Spätwerks und, ob mit oder ohne Elisabeth, die Gedanken von Zucht und Züchtung kehren immer wieder. Allerdings: Die „blonde Bestie“ etwa ist mitnichten ein SS-Mann, sondern ein Löwe, wer denn sonst? Nietzsche zählte auch Araber und Japaner unter die „blonden Bestien“. Und niemand sollte annehmen, in diesem Buch stünden Sätze, die gar nicht von Nietzsche sind. Jeder Archivar ist ein hoffnungsloser Liebhaber der Originale, sonst hätte er kein Archiv gegründet, Elisabeth macht da keine Ausnahme.

Eine Heilige unter den Schwestern

Aber eine Frau als Große Vorsitzende eines privaten geisteswissenschaftlichen Archivs, das dem größten Frauenverächter weit und breit gewidmet war? Viele hielten das für einen katastrophalen Irrtum. Ein besonders feindseliger Beobachter sitzt in Basel, es ist Franz Overbeck, der atheistische Professor für neutestamentliche Exegese und ältere Kirchengeschichte, der seinen früheren Mitprofessor aus Turin wegholte, gewissermaßen im letzten Augenblick, bevor er in einem italienischen Irrenhaus verschwunden wäre.

Was, fragte sich Franz Overbeck nicht ohne Ingrimm, hat ausgerechnet Lieschen Nietzsche mit Gedanken zu schaffen? Sie ist eine Frau. Als 1904 der Schlussband ihrer Nietzsche-Biografie erscheint, veröffentlicht er eine Kritik. Als Titel des Buches schlägt er vor: „Friedrich Nietzsche, von einer Köchin beschrieben.“ Und er hat noch mehr zu sagen: „ ... sie wird wohl jetzt noch als eine Heilige unter den Schwestern gepriesen. Das wird umschlagen.“ Und zwar genau dann, wenn Nietzsches Briefe an ihn veröffentlicht werden. Und das wird nur allzu bald sein.

Elisabeth weiß, was das bedeutet. Overbeck hält offenbar eine Bombe in den Händen. Will er zeigen, dass Friedrich Nietzsche seine kleine Schwester verabscheut hat? Und was kann sie dagegen tun? Nun, sie könnte ein paar Briefe umadressieren, an sich. Man nennt das auch Fälschung. Sie könnte den Nachweis erbringen, dass ihr Bruder, der ihr nicht immer vertraut hat, ihr immer vertraut hat. Man nennt das auch Fälschung. Oder ist es eine Form von illegitimer Notwehr? Sind Fälscher manchmal unglückliche Liebhaber der Wahrheit, die unmöglich allein in den Briefen ihres Bruders an Overbeck stehen kann?

Da wäre etwa dieser hier, vom 25. Dezember 1882: „Lieber Freund ... Dieser Bissen Leben war der härteste den ich bisher kaute; es ist immer noch möglich, daß ich daran ersticke. Ich habe an den beschimpfenden und qualvollen Ereignissen dieses Sommers gelitten wie an einem Wahnsinn.“ Und selbst mit den stärksten Dosen Opium und Chloral schlief er nicht. Doch Nietzsche erstickte nicht, er schrieb vielmehr das ansteckende Buch, das einmal halb Europa infizieren würde, den „Zarathustra“.

Ihr Bruder liebt eine andere

Was aber ist passiert davor in jenem Sommer 1882? Die Geschichte der Elisabeth Förster-Nietzsche muss wohl noch einmal ganz von vorn erzählt werden. Und dann wird man auch die besondere Pointe dieses Lebens verstehen: Statt „parteiisch“ im Sinn der Nationalsozialisten den „Willen zur Macht“ gefälscht zu haben – 32 Jahre, bevor sie kamen –, veröffentlichte Elisabeth Förster-Nietzsche mit diesem Buch etwas, das sie zuvor tief und anhaltend missbilligt hatte. Genau das aber, dass sich seine kleine Schwester neuerdings herausnahm, seine Philosophie zu kritisieren, hat ihren Bruder sehr erbittert. Und eine Frage ist da noch. Hat Elisabeth wirklich die einzige große Liebe ihres Bruders auf dem Gewissen?

1882 also, das Jahr des großen Schismas der Geschwister Nietzsche.

***

Es ist unmöglich, aber wahr: Ihr Bruder liebt eine andere. Bis eben war sie die einzige Frau in seinem Leben, und nun? Sie hätte das nie geglaubt, „er ist nie von einem weiblichen Wesen nur halb so begeistert gewesen“, doch es ist geschehen.

Das ist Verrat.

Das Kuriosum von einem Weibe

Wann gab es ein Band zwischen Bruder und Schwester, so eng, so unauflöslich wie das ihre? Der unbedingte Beistandspakt zwischen ihnen, nie unterzeichnet und doch gültig von Ewigkeit zu Ewigkeit, er hat ihn gebrochen. Wegen einer Frau. Aber was heißt Frau? Wegen dieses Kuriosums von einem Weibe: „Dieselbe Größe wie ihre Mutter, dieselbe unmöglich dünne Taille, derselbe hochgewölbte Busen (so daß man beim Anblick dieses Oberkörpers immer im Zweifel war, ob der obere oder der untere Theil der unnatürlichste sei) …“ Und das ist erst der Anfang von Elisabeths Lou-Porträt.

Dass Fritz einmal so werden konnte, wie er in diesem Sommer war, so – wie soll sie das nur sagen? – eben „so wie seine Bücher“. Die Schwester des Philosophen harrt weltverloren allein in einem thüringischen Kleinstort aus, und zwar so: „Ich bin halbe Tage lang einsam in den dichtesten Wäldern herumgeirrt.“ Es ist Ende August, fast alle Badegäste sind schon weg, auch ihr Bruder und das Mädchen, dem seine Teilnahme gilt. Wann hätte Friedrich jemals mit seiner Schwester geredet wie mit dieser 21-Jährigen, so als sei jedes Wort aus ihrem Munde eine Offenbarung?

„Wir Neuen, Namenlosen, Schlechtverständlichen, wir Frühgeburten einer noch unbewiesenen Zukunft!“, wird er bald sagen. „Vorbereitende Menschen“ nennt er den Lou-Typus, den Friedrich-Typus in seinem neuen Buch: „Menschen mit eigenen Festen, eigenen Werktagen, eigenen Trauerzeiten … gefährdetere, fruchtbarere Menschen, glücklichere Menschen! Denn, glaubt es mir! – das Geheimniss, um die grösste Fruchtbarkeit und den grössten Genuss vom Dasein einzuernten, heisst: GEFÄHRLICH LEBEN! Baut Eure Städte an den Vesuv! Schickt Eure Schiffe in unerforschte Meere!“

Er hat sie benutzt

Philosophische Handreichung für die Nazis? Adolf Hitler wird bei einem Besuch des Nietzsche-Archivs in Weimar von Elisabeth Nietzsche empfangen.
Philosophische Handreichung für die Nazis? Adolf Hitler wird bei einem Besuch des Nietzsche-Archivs in Weimar von Elisabeth Nietzsche empfangen.

© bpk

Eigentlich mag ihr Bruder gar keine Frauen, er hält sie für ein zu defizitäres Geschlecht. Aber für diese junge Russin machte er eine Ausnahme. Sie sei die Einzige, sagt er, die seine Philosophie wirklich verstehen könne. „Wer nicht von dieser Russin entzückt ist ,dem fehlt der Blick für Größe‘ oder (er) ,ist eifersüchtig‘“, referiert Elisabeth mit Bitterkeit im Herzen den Standpunkt ihres Bruders. Wahrscheinlich hat er nicht einmal vergessen hinzuzufügen, dass die Eifersucht eine spezifisch weibliche Begabung sei.

Er hat sie benutzt. Er brauchte sie als Anstandsdame, schließlich konnte er nicht allein mit einem jungen Mädchen im Wald wohnen. Es war so demütigend. Und sie hat diesen Ort auch noch für ihn gefunden, für ihn eingerichtet. Es war der schlimmste August ihres Lebens, es war der schlimmste Aufenthalt ihres Lebens. Auch sie müsste jetzt abreisen, endlich abreisen, den Schauplatz ihrer Erniedrigung verlassen, aber sie kann hier nicht weg, aus zwei Gründen. Sie weint die Tage und die Nächte durch, so kann sie nicht unter Menschen gehen, so kann sie nicht Zug fahren, so kann sie nicht nach Hause kommen.

Der zweite Grund ist: Ihr Bruder ist dort, Fritz ist zu Hause. Er ist nach Naumburg gefahren, zur Mutter. Sie selbst hat ihn darum gebeten, kategorisch darum gebeten, gleich nachdem das Monstrum weg war. Sie halte es jetzt nicht aus, hat sie ihm gesagt, mit ihm am selben Ort zu sein, dieselbe Luft zu atmen.

Philosophen sind empfindlich, wenn man über sie selbst spricht

Am 26. August 1882 brachte Friedrich Nietzsche die Petersburger Generalstochter nach Dornburg zum Bahnhof und als er zurückkam, haben die Geschwister sehr gestritten. Er benahm sich, als sei nichts geschehen, als sei alles gut zwischen ihnen, wie immer, eher noch besser. Diese gute Laune, mit der er zurückkehrte, diese Zuversicht, schnitt ihr ins Herz. Elisabeth wusste, dass er wusste, wohin Lou fährt: zu Rée, direkt in die Arme seines besten Freundes. So ist dieses Mädchen.

Und Fritz will das nicht sehen. „Der arme Thor macht nur sich und seine Philosophie lächerlich.“ Und sie, seine Schwester, macht er auch lächerlich. Elisabeth brüte „auf ihren kleinen Novelleneierchen“, hat er Lou mitgeteilt. Weil es Frauenplunder ist, was sie zu Papier bringt? Weil sie zu viele Adjektive benutzt und jedes Mal die falschen? Oder weil Friedrich in ihrer Novelle die Hauptfigur ist, ein Philologieprofessor Mitte 30, der nicht heiraten will?

Philosophen sind empfindlich, wenn man statt über ihre Gedanken über sie selbst spricht, auch das hat sie in ihrer Novelle vermerkt: Nichts ist Philosophen unangenehmer, als wenn man ihre philosophischen Bemerkungen ins Persönliche überleitet. Aber sie hatte keine Wahl. Jeder Autor sollte über etwas schreiben, das er wirklich gut kennt, und sie kennt nichts und niemanden auf dieser Welt besser als ihren Bruder. Georg Eichstedt heißt er in ihrer Erzählung, und natürlich benutzt sie Zitate aus Friedrichs Büchern, schließlich handelt die Geschichte von ihm.

Aber nein, Elisabeth Nietzsche hat jetzt wohl keine Freude mehr an ihrer Novelle, auch zum Schreiben gehört ein kleiner Übermut. Sie wird diesem Stück Literatur – vielleicht war es ihr Erstling – am Ende nicht einmal einen Namen geben. Hat Friedrich Nietzsche die Schriftstellerin Elisabeth Nietzsche auf dem Gewissen?

"Lies die Bücher meines Bruders nicht"

Noch im Juni hat sie ihm geholfen, das letzte seiner unverkäuflichen Bücher druckfertig zu machen. Er hat es „Die fröhliche Wissenschaft“ genannt. Aber mit Wissenschaft hat das nichts zu tun, sie täuscht er nicht. Es ist eine Bibel der radikalen Selbstbezüglichkeit, er formuliert das nur viel schöner, damit niemand den Betrug gleich merkt: „Menschen mit eigenen Festen, eigenen Werktagen, eigenen Trauerzeiten …“? Pah!

Sie sagt gern Pah! Es klingt so definitiv. „Höherer Egoismus“? Worte! Ist eine höhere Gemeinheit etwa keine Gemeinheit mehr? Schließlich gibt Friedrich selbst zu, dass Lou „böse“ ist, sie sei „ein hervorragend böses Wesen“, sagt er, auch Voltaire sei böse gewesen und trotzdem ein großer Aufklärer. Aber Lou ist doch nicht Voltaire! Und überhaupt, „ein männlicher Schurke mag noch gehen aber ein weiblicher Schurke nützt nie etwas“. So sieht sie das.

„Lies die Bücher meines Bruders nicht“, wird sie eine Freundin bitten, „sie sind für uns zu schrecklich, unsere Herzen wollen höher hinaus als zur Allbewunderung des Egoismus. Ach und gieb dir keine Mühe und quäle dich nicht diese Bücher mit dem früheren Nietzsche in Einklang zu bringen, es ist nicht möglich.“

Sie weiß nur zu genau, wer dieses Weib mit den beiden anatomisch inadäquaten Körperhälften ist: Sie ist die „PERSONIFICIERTE Philosophie meines Bruders“. Seine Bücher haben, daran ist kein Zweifel, einen sehr schlechten Einfluss auf ihren Bruder. Aber dazu noch die Russin: Das, glaubt Elisabeth, ist mehr, als Friedrichs geistige Zurechnungsfähigkeit ertragen kann.

Ja, sie haben sehr gestritten.

Menschen, die lieben, leben jenseits der Vernunft

Sie wolle gar nicht über sich sprechen, erklärte sie, wahrscheinlich nicht ohne die selbstlose Pose der Märtyrerin einzunehmen, was ihn erbittert haben dürfte. Sie rede nicht über die Kränkungen, die sie erlitt … Wenn Friedrich Nietzsche etwas hasst, dann sind das Gespräche, die so beginnen. Wenn sie auch über das Maß des ihr zugefügten Leids schweigen würde, über diese infame Person, das sagte sie Friedrich geradewegs ins Gesicht, über diese Larve von einem Menschen gedenke sie fürderhin nicht zu schweigen. Ob gefragt oder ungefragt, ließ sie offen. Die Wirkung ihrer Worte schildert Elisabeth der Freundin Clara Gelzer so: „Als ich aber erklärte daß ich über Lou die reine Wahrheit sagen würde, fing er gegen mich zu wüthen an.“ Sie solle sich in Acht nehmen! Sie solle sich nur in Acht nehmen, er meine es ernst.

Menschen, die lieben, leben jenseits der Vernunft. Das gilt auch für Philosophen. Wenn sie daran denkt, dass sie dieses Tautenburg für ihren Bruder erst gefunden hat. Dass sie es eingerichtet hat, für ihn und seinen Besuch. Wo wäre er denn ohne sie? Diese Russin wird ihn gewiss nicht pflegen, wenn er krank ist, und krank ist er meistens. Nichts wird sie für ihn tun, diese „Frühgeborene einer noch unbewiesenen Zukunft“.

Es ist, genau genommen, eine Frechheit, dass ein Mensch, der so sehr auf die Fürsorge seiner Umwelt angewiesen ist wie ihr Bruder, den Egoismus, den radikalen Selbstbezug verklärt. In der Welt, die er erdenkt, möchte sie nicht leben. „(E)s bricht mir das Herz diesen veränderten Menschen zu sehen und wie edel war er früher!“

Wie sagt man sich los von sich selbst?

Und dann trat Elisabeth Nietzsche, 34 Jahre alt, unverheiratet, kinderlos, nicht ohne eine gewisse Feierlichkeit – soweit ihr verweintes Gesicht das zuließ – vor ihren Bruder hin, um ihm zu erklären, dass er keine Schwester mehr habe, solange er sich nicht lossage von dieser Frau.

Weiß sie, dass sie Unmögliches verlangt?

Wenn diese 21-Jährige in der Tat die „PERSONIFICIERTE Philosophie“ Friedrich Nietzsches sein sollte: Wie sagt man sich los von sich selbst?

Die Schwester des Philosophen auf einem undatierten Bild.
Die Schwester des Philosophen auf einem undatierten Bild.

© ullstein bild

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