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Der Zauber der San Francisco Bay Area. Drei Monate lang lebten unsere Autoren in Oakland, auf der anderen Seite der Bucht.

© imago/robertharding

Wohnungstausch um die Welt: Das Leben der Anderen

Unsere Autoren nutzen seit Jahren Internetplattformen, um kostengünstig fremden Alltag zu erleben. Warum sie dabei auch sich selbst entdecken.

Jessica: Abreisevorbereitungen

Unsere Wohnung ist ein schwarzes Loch. Ein astronomisches Monster, das beständig Staub und Materie anzieht. Auf meinem Schreibtisch: babylonische Zetteltürme. Das Bücherregal: voll besetzt – und das nicht nur in der ersten Reihe, sondern auch auf den Plätzen dahinter. In der Küche drängen sich Pfeffer-, Zimt-, Kümmel- und Kurkumatütchen dicht aneinander. Wächst auf den Gewürzinseln überhaupt noch irgendwas? Auch in den Vorratsschrank passt keine Linse mehr. Ich schließe ihn behutsam, bevor er explodiert.

Weiter ins Badezimmer. Mit den angebrochenen Shampooflaschen könnten wir sämtlichen Woodstock-Besuchern Haare und Bärte waschen. In einer Woche stehen Ella, ihr Mann und die zwei Jungs auf der Matte. Sicher möchten sie ihre Koffer auspacken und ihre Sachen irgendwo hinräumen. Wir müssen Platz schaffen! Seit unserem ersten Tausch mit den Kopenhagenern ist die Aufräumaktion vor der Abreise Tradition. Andere Familien machen Frühjahrsputz. Wir misten aus – und das mehrmals pro Jahr.

Einfach ist das nicht. Beim ersten Mal sortierten wir kistenweise Bücher, DVDs und CDs aus, um sie bei Onlinehändlern zu verkaufen, standen mit unseren Handys vor den Regalen, scannten Barcodes und verglichen Ankaufspreise. Stück für Stück verschwand in den Versandkisten: meine Star-Trek-DVD-Boxen, der drei Kilo schwere Begleitband zu Billy Wilders „Some Like It Hot“, auch meine signierten „World-of-Warcraft“-Spielkarten landeten in der Kiste.

"Könntet ihr bitte ein richtiges Bett aufstellen?"

Für die Unterschriften der Entwickler hatte ich auf der Messe BlizzCon im kalifornischen Anaheim eine Stunde in der Schlange gestanden! Meine Finger waren grau vom Staub. Meine Seele leer. „Deine Smiths-CDs kannst du auch einpacken. Wir haben alle zweimal“, vermeldete Christoph aus dem Wohnzimmer. Mit einem Aufheulen feuerte ich die Tür zu. Doch ich gewöhnte mich daran, Sachen gehen zu lassen. Unsere Wohnung wurde leerer. Oder etwas weniger voll. Ich fühlte mich leichter.

Seit Jahren gehen Jessica Braun und Christoph Koch gemeinsam auf Reisen.
Seit Jahren gehen Jessica Braun und Christoph Koch gemeinsam auf Reisen.

© Jessica Braun/Christoph Koch

Zur Belohnung kam durch die Verkäufe ein bisschen Geld in die Reisekasse. Mittlerweile ist das Ausmisten kein dramatisches Abschiednehmen mehr. In der Woche vor unserer Abreise reserviert jeder von uns pro Tag eine Stunde für eine Ecke, die ordentlicher werden soll. Das genügt. Auch, weil wir weniger anschaffen. Ja, die Vase vom Flohmarkt würde toll zur Wohnzimmerlampe passen – aber sie nimmt auch Platz weg. Staubt ein. „Stehimwegs“ hat eine Freundin solche Dinge mal genannt.

Eine Sache haben wir aber doch angeschafft: die Schlafcouch. Auf Wunsch der Kalifornier. Bis dahin hatten wir immer eine Matratze aus dem Keller geholt, wenn Freunde oder mehr als zwei Haustauscher bei uns übernachteten. Karen und Richard wollten jedoch ihre erwachsenen Töchter mitbringen: „Könntet ihr bitte ein richtiges Bett aufstellen? Wir überlassen euch dafür auch gerne drei Monate lang unser Auto.“ Ein verlockendes Angebot. Und für Langzeitgäste war die Matratze wohl wirklich keine gute Lösung. Also suchten wir, bis wir eine schicke bequeme Klappcouch gefunden hatten. Dafür flog das alte Ledersofa in meinem Arbeitszimmer raus.

Eine Woche vor der Abreise startet das große Putzen

Auch wenn das Aufräumen nicht mehr so viel Zeit einnimmt, die To-do-Liste vor der Abreise wird nicht kürzer. Für jede Sache, die erledigt ist (Fahrräder aufpumpen, falls unsere Tauschpartner eine Radtour machen wollen), kommt eine neue (Garderobe frei räumen, Duschvorhang waschen) hinzu. Als Teenager fand ich es absurd, wenn meine Mutter vor dem Urlaub anfing, die Fenster zu wienern oder den Kühlschrank zu säubern. Seit wir Gäste haben, während wir weg sind, feudele ich vor deren Ankunft mit dem Schrubber über den Balkon, während Christoph den Kleiderschrank entstaubt.

Klingt bekloppt? Ist es vielleicht auch. Aber manche Putzarbeiten würden irgendwann sowieso anfallen – so konzentrieren sie sich eben auf die Woche vor unserer Abreise. Und wir möchten nicht in einer Wohnung sitzen, die so aufgeräumt ist wie eine Raumstation, während unsere Tauschpartner in Berlin Wollmausangriffe abwehren müssen und sich von unseren Sachen erdrückt fühlen. Außerdem haben wir am Ende ja auch was davon: Ist doch schön, wenn man in eine ordentliche Wohnung zurückkommt. Dieser Satz hätte jetzt eins zu eins auch von meiner Mutter stammen können.

Wie viele Schubladen oder Schrankfächer wir für die Gäste freimachen, hängt davon ab, wie lange wir tauschen. Im Schlafzimmer steht ein Kleiderständer mit genügend Kleiderbügeln, um Garderobe für mindestens zwei Wochen aufzuhängen. Zusätzlich räumen wir noch ein paar Kommodenschubladen leer. Den Kaliforniern Karen und Richard, die drei Monate zu Besuch waren, überließen wir die Hälfte unseres Kleiderschranks. Unsere Sachen verstauten wir so lange im Keller.

Wohin mit den Wertsachen?

Den Kühlschrank essen wir leer. Abgesehen von unkaputtbaren Lebensmitteln wie Senf oder Marmelade wird alles verkocht, was wir angebrochen haben. Christophs liebevoll gehegter Sauerteigansatz, der im Glas vor sich hin blubbert, bekommt einen Aufkleber: „Sourdough“. Mit zunehmendem Alter entwickeln Wohnungen Macken. „Achtung, Tür hängt sich aus“, stand in Barcelona auf einem Post-it am Küchenschrank. In Mexiko lag eine mehrseitige Anleitung neben dem Wasserboiler. Zum Glück wohnte Oma Paula mit im Haus. Sie bändigte den muckenden Boiler schneller, als wir das je gekonnt hätten.

Auch wir kleben Zettel an alles, was sich vor der Abreise nicht reparieren lässt oder einer besonderen Erklärung bedarf. Ausnahme: mein dänisches Sideboard aus den 50er Jahren. Die Schiebetüren gehen nur auf, wenn man die linke Tür etwas anhebt. Da es unser einziger Schrank mit Schlüssel ist, räume ich mein Tablet hinein und schließe ab. „Was macht ihr eigentlich mit euren Wertsachen?“, ist eine Frage, die fast jeder stellt, dem wir vom Home Swapping erzählen. Vor unserem ersten Tausch haben wir uns das auch gefragt. Und festgestellt: Wir haben keine. Weder Picasso-Lithografien noch Tiffany-Colliers. Das Teuerste in unserer Wohnung sind unsere Computer.

Natürlich wäre es ärgerlich, wenn die kaputtgingen. Aber sie sind nicht unersetzbar.

Jessica: Das Leben der anderen

Auch so könnte man wohnen. Den alten VW-Bus entdeckten unsere Autoren beim Ausflug nach San Francisco.
Auch so könnte man wohnen. Den alten VW-Bus entdeckten unsere Autoren beim Ausflug nach San Francisco.

© Jessica Braun/Christoph Koch

Mein Herz ziept, wenn ich an unser Haus in Kalifornien denke. An das Klick, Klick, Klick der Katzenkrallen auf dem Parkett, das mich weckt. Den Geruch von Filterkaffee und Oatmeal in der großen Küche mit Erker. An den Blick vom Hügel auf das graue Meer. An die Wolken, die mit der Dämmerung wie Piratenschiffe angesegelt kommen, um sich erst die Golden Gate Bridge und dann San Francisco mit all seinen Lichtern einzuverleiben. Fast täglich versinkt die Bay im Winter im Nebel, Oaklands Straßen leuchten weiter im kupferfarbenen Abendlicht.

Oaxaca, Stockholm, Barcelona – alles wundervolle Städte, aber Oakland ist mein Sehnsuchtsort. Das Zuhause von Karen und Richard, unseren Tauschpartnern, trug viel dazu bei. In einer Straße hübscher Einfamilienhäuser gehörte es zu den älteren. Es war geschmackvoll eingerichtet, aber unordentlich genug, dass ich mich beim Fernsehen traute, die Füße auf den Tisch zu legen. Die Dellen in den Sofakissen, die Fotos im Flur, die lustigen Kaffeetassen im Schrank und das sonnenbeschienene Gemüsebeet erzählten von einer frohen, ein bisschen nerdigen, linksliberalen Familie.

Einer Familie, in der ich mich vermutlich auch wohlgefühlt hätte. Als Tochter von Karen und Richard, aufgewachsen zwischen Tennisschlägern und Katzenspielzeug, „I love Obama“-Aufklebern und „Gay Rights“-Wimpeln, der Harry-Potter-Sammlung und Ratgebern wie dem Hippie-Handbuch, hätte ich es womöglich als Studentin bis nach Berkeley geschafft. Vielleicht hätte ich aber auch die Schule geschmissen, um mit einem surfenden Bäcker durch die Welt zu reisen und Bücher zu schreiben. Was wiederum der Beschreibung von Christoph und unserem gemeinsamen Leben ziemlich nahekommt.

Man schlüpft in das fremde Leben, wie in eine getragene Jacke

Mit jedem Tag, an dem ich in Kalifornien morgens in meinen Birkenstocks die „New York Times“ vom taunassen Rasen klaubte, Waschmittel in die nach oben geöffnete Waschtrommel kippte oder Bananenbrot backend in der Küche stand, wuchs ich mehr in das Leben einer Kalifornierin hinein. Die Menschen, mit denen ich für meine Artikel sprach – zum Beispiel mit einer irrwitzig klugen Wissenschaftlerin über die Wiederbelebung von Mammuts oder mit einem Designer über Roboterkämpfe –, haben keine Angst davor, groß und optimistisch zu denken.

Ich spürte förmlich, wie sich mein Horizont mit jedem Treffen weitete. Mit jedem Haustausch schlüpfe ich so in das Leben anderer Menschen, kann es anprobieren wie eine getragene Jacke. Manche passen auf Anhieb. Andere nicht so. Aber dadurch lernen Christoph und ich immer etwas dazu. Wie viel Platz brauchen wir? Weniger als in Perth (sechs Zimmer), mehr als in Stockholm (eineinhalb Zimmer). Sind wir Hunde- oder Katzenmenschen? Beides! Und sicher auch Meerschweinchen- und Schildkrötenmenschen. Macht uns Gartenarbeit Spaß? Ja. Aber deswegen aufs Land ziehen? Eher nein. Das gemeinsame Entdecken schweißt uns zusammen.

Zum Beispiel unsere Laufrunden. Zu Hause joggen wir zwei- bis dreimal in der Woche. Wenn wir tauschen, auch. In Oakland führte unsere Runde um den Lake Merritt, einen Salzwassersee mit kleinen Inseln, auf denen silberne Reiher nisten. Wenn die Sonne untergeht, wird in den am Ufer geparkten Autos heftig gekifft – und die Rauchwolken, die aus den geöffneten Fenstern wabern, sorgen für eine ganz andere Art von Runner’s High. In Stockholm joggten wir entlang der Villen am Strandvägen und über verwunschene kleine Inseln aus Granitfelsen. Manchmal auch durch den Wald. Da kamen wir wegen der reifen Heidelbeeren aber nur mittelgut voran.

Wir entdecken die Umgebung – und uns selbst

In Perth trieb die Sonne die Temperaturen an manchen Tagen über die 40-Grad-Marke. Laufen nur für Lebensmüde! Also packten wir die Badesachen in den mitgetauschten Jaguar und fuhren ins nächste Schwimmbad. Mit neonfarbenen Sunblockern bemalt wie Pool-Schamanen zogen wir im kühlen Wasser unsere Bahnen. Christoph machte das Bahnenschwimmen so viel Spaß, dass er zurück in Berlin dabeiblieb und nun regelmäßig ins städtische Hallenbad pilgert.

So werden wir zu Entdeckern – der neuen Umgebung und unserer selbst. Und was wir entdecken, gefällt uns fast immer. In einem 1975 veröffentlichten Essay schrieb der US-Autor Walker Percy: „Jeder Entdecker nennt seine Insel Formosa: schön. Sie ist schön, weil er der Erste ist. Er kann sie betreten und sie so sehen, wie sie wirklich ist. Für niemand anderen wird sie jemals so schön sein – mit Ausnahme vielleicht für denjenigen, dem es gelingt, sie wiederzuentdecken. Der weiß, dass sie wiederentdeckt werden muss.“

Auf dem Esstisch in Perth lag eine stattliche schwarze Ledermappe, in der Alfie und Victoria seitenweise Ratschläge für uns abgeheftet hatten. Neben Infos zum Auto („tankt unverbleiten Kraftstoff mit 95 Oktan“) und dem Gärtner („ein netter Kerl, aber etwas schweigsam“) fanden sich auch Tipps für Restaurants, Delikatessenläden und den besten Spirituosenshop in der Nähe. Die meisten Haustauscher legen so eine Sammlung für ihre Gäste bereit. Diese Mappen sind die Landkarte von Formosa, dieser Insel, die überall sein kann und die wir auf den Spuren unserer Gastgeber betreten.

Wir waren keine Touristen, sondern Nachbarn

Auch in Barcelona fanden unsere Autoren eine Tauschwohnung.
Auch in Barcelona fanden unsere Autoren eine Tauschwohnung.

© Jessica Braun/Christoph Koch

Ihren Ratschlägen zu folgen haben wir noch nie bereut. Auf Alfies und Victorias Empfehlung hin saßen wir eines Abends zum Beispiel in einem Outdoor-Kino im James Mitchell Park. Es war direkt am Ufer des malerischen Swan River aufgebaut, die Luft wurde abends kühl. Eingepackt in Decken kuschelten wir uns in die Sitzsäcke. Über die Leinwand tobten Eddie Redmayne und seine „Fantastischen Tierwesen“. Über uns flatterten erst johlende Schwärme weißer Kakadus, dann, mit zunehmender Dunkelheit, riesige Fledermäuse.

In Princeton landeten wir dank Anne und James in deren Stammpizzeria. Auf den ersten Blick hatte diese so viel Charme wie eine Mensa: Plastiktischdecken, Cola aus Pappbechern, American Football auf mehreren Fernsehern. Doch die absurd großen Pizzastücke, die auf Etageren vor uns abgestellt wurden, waren göttlich: leicht verbrannte Ränder, dicke Käseschicht, frisches Basilikum. Mir ist dieser Abend nicht nur wegen der Pizza in Erinnerung geblieben.

Es war die familiäre Atmosphäre, die ihn so besonders machte. Wir waren keine Touristen, sondern eines der Paare aus der Nachbarschaft. Für mich als Neu-Haustauscherin ein unerwarteter Moment der Zugehörigkeit. „Touristen mögen keine Touristen“, schrieb der US-Soziologe Dean MacCannell 1976 in seiner Betrachtung des Massentourismus. Klar, ein Sonnenuntergang fotografiert sich einfach besser, wenn nicht 20 andere hochgehaltene Handys im Weg sind. Aber diese Abneigung gegenüber anderen Touristen ist eigentlich ziemlich absurd – andere Menschen nervig zu finden, nur weil sie das Reisen so lieben wie man selbst.

Das alles ist gut fürs Gehirn

Richtig freimachen kann ich mich von dieser Haltung trotzdem nicht. Wenn ich reise, suche ich Formosa: den Ort, der noch nicht auf Trip Advisor bewertet wurde. Beim Haustausch ist dieser meist in Reichweite. Statt bei von Reisebüros organisierten, superauthentischen Begegnungen mit Bergvölkern, Ausfahrten mit Fischern oder Übernachtungen im Karawanenzelt hole ich mir meinen Reisekick beim Straßenfest mit den Nachbarn, Jaguarfahren im Linksverkehr oder Einschlafen in Hello-Kitty-Bettwäsche. Formosa!

Außerdem ist das alles gut fürs Gehirn, wie Lawrence C. Katz, Professor für Neurobiologie an der Duke University, herausgefunden hat: „Es ist ein Märchen, dass die Leistung unseres Gehirns im Alter nachlässt“, erklärte der inzwischen verstorbene Forscher vor einigen Jahren in einem Interview mit der Zeitschrift „Neon“. „Gehirnzellen sterben nur bei extrem alten Menschen ab. Was vielmehr passiert, ist, dass diejenigen Verästelungen und Verzweigungen zwischen den Gehirnzellen, die sogenannten Dendriten, verkümmern, die nicht benutzt werden. Und wenn wir immer nur dieselben Dinge tun, befahren wir sozusagen immer nur dieselben Straßen unseres Gehirns. Die unbefahrenen Straßen verwittern irgendwann, und wir können sie nicht mehr benutzen.“

"Chef, ich arbeite in Rom. Arrivederci!"

Vielleicht stimmt es tatsächlich, dass ich reisend ein besserer Mensch bin. Anwesender. Bewusster (auch wenn das jetzt vielleicht ein wenig esoterisch klingt). Für die persönliche Entwicklung sei es wichtig, „rauszugehen und Dinge zu tun, die ungewohnt und fordernd sind. Dinge, die einen geistig und emotional stark stimulieren“, sagte die Gehirnforscherin Denise Park der Zeitschrift „Psychology Today“. „Solange Sie sich in Ihrer Komfortzone befinden, sind Sie höchstwahrscheinlich außerhalb der Zone, in der Sie etwas dazulernen.“

Park nennt sie die „enhancement zone“, die Verbesserungszone, also den Bereich, in dem das Stresslevel ein klitzekleines bisschen höher ist als sonst – gerade genug, um einen wach und schnell zu machen. Neurologen wie Katz empfehlen, sich die Zähne eine Woche lang mit der ungewohnten Hand zu putzen, um die Routine auszubremsen.

Christoph und ich leben einfach immer mal wieder für ein paar Wochen woanders. Nun hat nicht jeder Arbeitnehmer die Möglichkeit zu sagen: „Chef, ich arbeite die nächsten vier Wochen in Rom. Arrivederci!“ Von dem Effekt kann man aber auch im Urlaub profitieren. Als Haustauscher kommt man um den fremden Alltag gar nicht herum. Er drängt sich einem förmlich auf. Formosa ist überall.

Christoph: Zu Hause wohnt es sich anders

Hier am Nyhavn in Kopenhagen lebte einst der Märchendichter Hans Christian Andersen.
Hier am Nyhavn in Kopenhagen lebte einst der Märchendichter Hans Christian Andersen.

© Jessica Braun/Christoph Koch

Die aufregendsten Momente der Tauscherei haben immer mit Türen zu tun. Wir atmen tief durch, bevor wir die eigene Tür bei der Abreise hinter uns zuziehen. Wir sind gespannt und aufgeregt, bevor wir die Tür zu unserer neuen, vorübergehenden Bleibe öffnen. Und wir sind ein bisschen ängstlich, wenn wir nach unserer Rückkehr aus dem Aufzug steigen und wieder vor unserer eigenen Wohnungstür stehen.

Wird uns dahinter unser vertrautes Zuhause erwarten? Oder ein paar leere Räume und ein Zettel, auf dem „Vielen Dank, ihr Trottel!“ steht? Ein paar verkohlte Überreste von dem, was mal unsere Wohnung war? „Sie müssen uns glauben, Herr Wachtmeister, wir haben keine Ahnung, wie diese Leiche, die Murmeltiere und das Bernsteinzimmer in unserer Abwesenheit hierhergelangt sind.“

Ich erinnere mich gut an die Rückkehr von unserem ersten Tausch. Wir hatten Ella und Martin nie getroffen, bei unserem Skype-Gespräch wirkten sie sehr nett. Alles nur Fassade? Vorsichtig schloss Jessica die Tür auf. Das Erste, was mir auffiel, war: „Stimmt, so riecht unsere Wohnung!“ Ich meine damit natürlich keinen Mief, sondern diesen individuellen Geruch, den jede Wohnung hat. Der sich vermutlich aus den Putzmitteln, dem Bodenbelag, den Holzsorten der Möbel, den verwendeten Parfums und Dutzenden sonstiger Faktoren zusammensetzt. Und den man irgendwann nicht mehr wahrnimmt, wenn man dort wohnt. Aber an den man sich erinnert, wenn man wieder an einen Ort zurückkehrt.

Okay, zumindest der Geruch war also der alte. Ich ging von Zimmer zu Zimmer, darum bemüht, möglichst abgeklärt und lässig zu wirken. In Wirklichkeit suchten meine Augen jedoch alles nach Veränderungen ab. Was fehlte? Was war beschädigt? Schmutzig? Nach einer Weile fand ich mich mit Jessica, die die Zimmerrunde in einer anderen Reihenfolge absolviert hatte, im Wohnzimmer wieder. „Alles wie vorher, oder?“, fragte sie. – „Alles wie vorher.“– „War ja klar, oder?“, fragte Jessica, ebenso um Lässigkeit bemüht wie ich.

Einmal fanden wir unsere Wohnungstür nur angelehnt vor

Auf dem Wohnzimmertisch stand eine Flasche Wein, daneben lagen ein Brief, in dem sich Ella und Martin für die schönen Tage in unserer Wohnung bedankten, eine Zeichnung von ihrem kleinen Sohn und unsere Fahrrad- und Briefkastenschlüssel. So, wie sich die Begrüßungsnachrichten je nach Tauschpartner unterschieden, variierten auch die Nachrichten, die wir vorfanden, wenn wir nach Hause kamen. Mal lag da eine kleine Dankesnotiz. Mal stand der ganze Tisch voll mit Bieren verschiedener Brauereien und Backförmchen. „Wir hatten das Gefühl, Ihr backt gerne und mögt Bier“, stand auf einem Zettel.

Was die Sauberkeit angeht, konnten wir uns bisher auch nie beklagen. Obwohl wir selbst vor der Abreise stets versucht hatten, den letzten Staubfitzel aus der hintersten Ecke zu verbannen, bekamen wir unsere Wohnung jedes Mal sauberer zurück, als wir sie hinterlassen hatten. Ein einziges Mal gab es jedoch so etwas wie einen kurzen Heimkehrschock: Als wir nach dem Tausch mit dem freundlichen Wirtschaftsprofessor aus Princeton und seiner Frau nach Hause zurückkehrten, fanden wir unsere Wohnungstür nur angelehnt vor.

Nachdem wir die beiden in den USA kennengelernt hatten und ich keinerlei Vermutung hegte, dass sich ein Princeton-Professor sein Gehalt durch das Ausräumen von Wohnungen deutscher Lohnschreiber aufbessern muss, blieb nur eine Möglichkeit: Einbrecher! Ich bedeutete Jessica, im Treppenhaus zu warten. Die Geste dafür hatte ich mir in diversen Spionage- und Militärfilmen abgeschaut. Ich griff mir eine schwere Stabtaschenlampe aus einem Schränkchen im Flur und fing an, durch die Wohnung zu schleichen. Dabei schaute ich ruckartig in jede Ecke und hinter jede Tür.

Unglaublich, wie wenig Spuren die Menschen hinterlassen

Doch außer uns war niemand da. Unsere Computer standen noch auf ihren Plätzen, und auch sonst schien nichts zu fehlen oder durchwühlt worden zu sein. Ich holte Jessica in die Wohnung. Ratlos betrachteten wir die Pralinenpackung und den fröhlichen Brief, den uns die Princetoner hinterlassen hatten: Alles super, vielen Dank! Willkommen zu Hause, so die Quintessenz. Offensichtlich hatten die beiden bei ihrer Abreise die Tür einfach nicht richtig hinter sich zugezogen – vielleicht, weil sie in Eile waren.

Abgesehen von diesem kurzen Schockmoment ist es aber insgesamt eher skurril, wie wenig Spuren die Menschen hinterlassen, die manchmal über Wochen bei uns zu Gast sind. Das Ungewöhnlichste, was bisher aufgetaucht ist, war eine Flasche Pfefferminzschnaps im Kühlschrank. Manchmal finden wir erst in den Tagen nach unserer Heimkehr Spuren und Hinweise darauf, wie unsere Tauschpartner ihre Zeit verbracht haben: Vielleicht ist ein Buch aus dem Regal in den Stapel auf dem Nachttisch gewandert. Oder Netflix fragt, ob wir eine Serie weiterschauen wollen, die wir nie angefangen haben.

Unsere allerersten Tauschpartner aus Kopenhagen hinterließen fast keine Spuren. Den einzigen Hinweis, dass jemand während unserer Abwesenheit in unserer Wohnung gelebt hatte, fand ich am Morgen nach unserer Heimkehr: Ich wollte zwei Tassen aus dem Küchenschrank nehmen, aber irgendetwas war anders. Die Tassen standen falsch herum. Nämlich mit der Öffnung nach unten. Nach unten! Das muss man sich mal vorstellen. Und da soll noch jemand sagen, beim Wohnungstausch kann man keine Abenteuer erleben.

Jessica Braun, Christoph Koch - Your home is my castle: Als Wohnungstauscher um die Welt.
Jessica Braun, Christoph Koch - Your home is my castle: Als Wohnungstauscher um die Welt.

© promo

Jessica Braun, Christoph Koch - Your home is my castle: Als Wohnungstauscher um die Welt. Piper Verlag, 1. August 2017, 256 Seiten, 16 Euro, E-Book: 12,99 Euro.

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