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Die oberirdischen Zugänge zu den Bunkern des einstigen Oberkommandos der Wehrmacht sahen aus wie harmlose Siedlerhäuser. Ihre gesprengten Überreste überwuchert der Wald.

© Thilo Rückeis

Wünsdorf: Auferstanden aus Kasernen

Vor 20 Jahren verließ die Rote Armee Wünsdorf. Die größte Militärstadt auf deutschem Boden: leer. Große Pläne wurden geschmiedet. Was ist daraus geworden? Ein Rundgang.

Von Andreas Austilat

Ungeübte Ohren könnten seinen Akzent leicht für russisch halten. Und glauben, Pawelas sei einer der Letzten, der noch übrig ist von 40- oder gar 60 000 erst sowjetischen, dann russischen Soldaten. Wie viele genau hier lebten, 40 Kilometer südlich von Berlin, verborgen hinter Mauern im Märkischen Wald, weiß keiner.

Pawelas hat tatsächlich seinen Wehrdienst in der Roten Armee abgeleistet, vor gut 25 Jahren. Aber nicht in Wünsdorf. „Niemals hätten die mich nach Deutschland gelassen, so nahe an den Westen.“ Er stammt aus Vilnius, der Hauptstadt Litauens. Den Litauern, die Ende der 80er Jahre um ihre Unabhängigkeit rangen, trauten die Russen nicht. So schickten sie den heute 47-Jährige als jungen Rekruten nach Kasachstan.

Heute aber steht er hier, verkauft Tee in Wünsdorf-Waldstadt, der einst größten Garnison der russischen Armee auf deutschem Boden. Die Russen sind dagegen alle weg, abgezogen vor 20 Jahren, der letzte ging am 9. September 1994.

Zurück blieben leere Kasernen, Wünsdorf allein umfasste fünf sowjetische Militärstädte unterschiedlicher Truppenteile. Vier-, fünf,- ja sogar sechsstöckige Wohnhäuser gehörten dazu, Sportstätten, Schulen, Schwimmbäder, Kinos auf einer Fläche von rund 600 Hektar und damit fast dreimal so groß wie der Berliner Tiergarten.

Ohne die Truppe war Wünsdorf bloß ein großes Dorf mit kaum mehr als 3000 Einwohnern. Erst die Russen hatten den Ort zur Stadt gemacht. Einer ziemlich merkwürdigen freilich. Spätestens wenn man damals auf der B 96 an einem Schlagbaum gestoppt wurde – von Zossen kommend ungefähr dort, wo sich heute ein Aldi befindet – bekam diese Militärstadt etwas Geheimnisvolles.

Doch als am 12. September 1990 der Zwei-plus-Vier-Vertrag geschlossen wurde, so benannt nach den beiden deutschen Staaten sowie Frankreich, Großbritannien und der Sowjetunion, besiegelte das nicht nur die Wiedervereinigung, sondern auch das Ende der russischen Militärpräsenz auf deutschem Boden. Es folgte der größte Rückzug der Militärgeschichte in Friedenszeiten: Binnen vier Jahren sollten 330 000 Soldaten, 208 000 Familienangehörige, 4116 Panzer und 8000 gepanzerte Fahrzeuge den Weg zurück antreten.

Ziemlich viele taten das mit der Bahn von Wünsdorf aus. Sie stiegen nicht an der kleinen Station ein, die heute den Ort mit Cottbus, Angermünde oder Elsterwerda verbindet. Gut 100 Meter weiter gab es einen russischen Bahnhof mit nur einem Gleis: Der Endpunkt der Linie Wjunsdorf – Moskwa. Zwei Tage dauerte die Fahrt.

Der Bahnsteig ist heute kaum noch zu identifizieren. Die Gleise sind abgeräumt, die nutzlosen Schwellen verrotten zwischen Birkenschößlingen, das Bahnsteigdach fehlt. Im Hintergrund ragen die Mauern der alten Militärbäckerei auf, die Fenster sind mit Brettern vernagelt. Verschwunden ist auch der Laden am Vorplatz, in dem ich 1993 auf einen Afghanen traf, der mit Radios, Spielzeug und billiger Kosmetik handelte. Der Mann, eigentlich Ingenieur aus Kabul, hatte schon den Rückzug der Sowjets aus Afghanistan mitgemacht. Wahrscheinlich ist er der Armee erneut gefolgt, wohin auch immer. Denn das war das Problem der vielen Tausend hier, zu Hause mussten ihre Unterkünfte erst gebaut werden.

„Unsere Politiker haben schlecht verhandelt“, erzählte mir seinerzeit ein russischer Oberleutnant im Wünsdorfer Armeemuseum, während draußen die rostbraunen Container standen, in denen Offiziersfamilien ihre Habe verstauten. Wer heute eine der Führungen durch die unterirdischen Bunker mitmacht, stößt auch auf dieses, nach 20 Jahren schon ein wenig verwitterte kyrillische Graffito: „Wir wussten, dass es schlimm werden würde, wir wussten nicht, dass es so schnell kommen würde.“

Es gab viele, die nicht gern gegangen sind, glaubt Pawelas. Nicht nur, weil sie nicht wussten, was wird, auch, weil sie sich hier blenden ließen, von den Autos, von den Schaufensterauslagen, die die niederen Dienstränge zum ersten Mal sahen, als sie nicht mehr hinter Mauern von der Welt da draußen abgeschottet wurden. „Was meinen Sie, wie viele denken, hier fällt einem alles in den Schoß.“ Ab und an trifft Pawelas auf Veteranen, die inzwischen als Besucher nach Wünsdorf kommen. Aber so sei es ja nicht, sagt er mit hörbarem Seufzen, schwer arbeiten müsse hier, wer Erfolg haben wolle.

Was hat ihn nach Wünsdorf verschlagen? Pawelas lernte in Vilnius eine deutsche Sprachlehrerin kennen. Er selbst unterrichtete Sport und Physik. Dann wurden ihre Eltern daheim in Zossen krank, bedurften der Pflege, da sind sie beide gekommen, vor 15 Jahren war das. Jetzt heißt er nicht mehr Ivanauskas, sondern Erbach und unterrichtet auch nicht mehr Physik, sondern verkauft Tee und Moldawischen Sekt in einem ehemaligen Postenhaus der 16. Sowjetischen Luftarmee.

Es waren aber nicht nur die Russen, die seinerzeit eine ambivalente Haltung zum Abzug hatten. 1000 deutsche Zivilbeschäftigte arbeiteten für die Garnison. Wenigstens zuletzt wurden die Russen von manchen Wünsdorfern auch als gute Kunden geschätzt, die sich vor der großen Abreise mit dem Nötigsten versorgten. Mit Stoffen etwa im „Kaufhaus der Wünsdorfer“. Oder mit Schuhen bei Hube. Jetzt ist der alteingesessene Schuhladen zu und das Kaufhaus auch.

Was sollte nur werden mit all den Häusern in Wünsdorfs geheimer Hälfte westlich von Bahndamm und B 96? Große Pläne wurden geschmiedet, von einer Stadt mit 20000 Einwohnern träumte Brandenburgs Landesregierung unter Ministerpräsident Stolpe, erzählt Michaela Schreiber und unterbricht für ein kurzes Lachen. Sie ist die Bürgermeisterin von Zossen, das gerade 18000 Einwohner hat. Und Wünsdorf ist heute Ortsteil von Zossen.

Pawelas Erbach
Pawelas Erbach

© Thilo Rückeis

Erst hoffte man auf die Bundeswehr. In Wünsdorf übte schon vor über 100 Jahren des Kaisers Armee das Schießen mit großen Kalibern. Nachdem deren Krieg 1918 verloren war, richtete sich die Reichswehr der Weimarer Republik ein, gefolgt von Hitlers Wehrmacht. Das Oberkommando des Heeres ließ gewaltige Bunker errichten. Fernmeldeleitungen von allen Fronten liefen in Wünsdorf ein, der Angriff auf die Sowjetunion wurde hier geplant. Am Ende nahm die Rote Armee das Areal kampflos ein.

Vielleicht fürchtete man beim Bund die Altlasten in diesem mit dunkler Geschichte und einer Menge Munition kontaminierten Boden. Das Land Brandenburg war am Zug. Wünsdorfs geheime Schwester, die Waldstadt, wie sie nun getauft wurde, sollte zum Beamtenzentrum werden. Denkmalpfleger, Polizisten, Juristen, Geologen, Forstwirtschaftler wurden hierher beordert. Doch es waren nie mehr als knappe 1000, sagt Dieter Jungbluth. Der pensionierte Lehrer ist Ortsvorsteher für Wünsdorf. Inzwischen müssen die Behörden Personal einsparen. Allenfalls 750 werden es noch sein. Und die meisten kommen als Pendler.

Wenn so eine Stadt etwas werden soll, braucht sie was Eigenes, erkannten die Planer in den 90er Jahren und nahmen sich Hay-on-Wye zum Vorbild, einen abgelegenen Ort zwischen Wales und England, der noch weniger Einwohner hat als Wünsdorf. Dort kam Richard Booth in den 60er Jahren auf die Idee mit der Bücherstadt. Es gelang ihm, 40 Antiquariate anzulocken, und als er in Hay-on Wye ein Königreich ausrief, schadete des auch nicht. Bis zu 80 000 bibliophile Besucher kamen in einem Jahr. Heute ist es in Hay-on-Wye ein wenig ruhiger geworden. Doch zwei Dutzend Antiquariate gibt es immer noch.

In Wünsdorf ließen sich ein gutes Dutzend Antiquare nieder, im ehemaligen Kompaniebad, in dem schon Hitlers Wehrmacht duschte, und in den Postenhäusern der sowjetischen Luftarmee. Doch als der LEG, der landeseigenen Entwicklungsgesellschaft, 2002 das Geld ausging, zogen sich auch die Antiquare zurück. „Da trennte sich die Spreu vom Weizen“, sagt Werner Borchert und guckt ein wenig streng über seine Lesebrille hinweg. Borchert ist Geschäftsführer der Wünsdorfer Tourismus GmbH.

Vier Antiquariate sind geblieben. Und gut sortiert ist man vor allem in Bereich Militaria. Wer Bücher sucht wie „Die 100 größten Schlachten“ oder „Endstation Oderfront“, wird hier fündig. Ein paar russische Souvenirs gibt es auch, „aber die Lackmalerei“, sagt Borchert mit Blick auf ein paar Matroschkas, „die steht hier heute rum wie Sauerbier“. Borchert war früher Mitglied in der Gesellschaft für deutsch-sowjetische Freundschaft, Russophobie kann ihm niemand vorwerfen.

Er hatte seinen Anteil daran, dass es die Bücherstadt überhaupt noch gibt. Und er erkannte, die Militärgeschichte ist die zweite, noch größere Attraktion, die Wünsdorf zu bieten hat. Museen erzählen die Garnisonsgeschichte, eines mit Namen „Roter Stern“ ist der russischen Vergangenheit gewidmet. Der Alltag der Rekruten war hart, bis zu 150 schliefen in einem Saal, Bildtafeln zeigen, wie die Haare zu schneiden, die Fußlappen zu wickeln waren. Rund 40 000 Besucher habe man im vergangenen Jahr gezählt.

Die können sich einer von vier verschiedenen geführten Touren anschließen, denn anders kommt man nicht auf das einst militärisch genutzte Gelände. Die geborstenen Betondächer der alten Wehrmachtsbunker sind von der Natur überwuchert, man könnte sie für Tempelruinen einer versunkenen Zivilisation halten. Borchert führt durch das unterirdische Innere. Zu seinem Bedauern ist das Mobiliar weitgehend verschwunden. Vor 20 Jahren habe man auf den Müll geworfen, was man nun mühsam zu rekonstruieren versuche.

Geschätzt die Hälfte des einstigen militärischen Komplexes ist heute Teil der zivilen Waldstadt. Hier wohnen Leute wie Bernd Pröfke, der Mittsechziger war mal in Berlin zu Hause. Warum er hier rausgezogen ist? „Kennen Sie den Mariendorfer Damm“, lautet seine Gegenfrage, „dann wissen Sie was Lärm heißt.“ Das sei doch die reine Idylle hier, proper sanierte Häuser, Vögel zwitschern, die raketenförmigen Luftschutzbunker, die zwischen den Wohnblöcken aufragen, stören ihn nicht, die sind exotisches Beiwerk. Wie die Statue des unbekannten Fliegers, die immer noch vor der Kommandantenvilla der 16. Luftarmee wacht. Heute logiert dort das China-Restaurant Peking, dem Flieger assistieren zwei goldene Löwen aus Gips.

Neben den sanierten Bereichen sichert Stacheldraht die leer stehenden Gebäude vor Souvenirjägern und Vandalismus, die manchem Bau sichtlich zugesetzt haben. Immerhin, der Komplex um das einstige Stabsgebäude des Kommandanten der Westgruppe der Truppen, wie sie zuletzt hieß, hat Ostern einen Käufer gefunden. Eine norddeutsche Immobiliengruppe will hochwertige Wohnungen schaffen, vielleicht auch ein Hotel. Man munkelt, russisches Geld sei auch dabei.

Es sind keine 20 000 Einwohner geworden, und im südlichen Teil der Waldstadt, dem billigen Viertel, wie manche hier sagen, gibt es erheblichen Leerstand. Aber Wünsdorf hat heute immerhin 6500 Bürger, davon die Hälfte in der Waldstadt. Ihre Zahl wächst jedes Jahr um 50, sagt Bürgermeisterin Michaela Schreiber. Das ist noch nicht die ganz große Erfolgsgeschichte – doch immerhin, andere märkische Gemeinden schrumpfen, während hier zuletzt sogar Plattenbauten aus den 70er Jahren Käufer fanden.

Und wie sehen die alten Wünsdorfer die Entwicklung ihrer Gemeinde? Gemischt. In der Apotheke erzählt eine Frau, dass sie schon finde, ihre Stadt-Hälfte würde vernachlässigt, verglichen mit drüben, der anderen Seite der B 96. Wieso, hält Bürgermeisterin Schreiber dagegen. Es sei doch alles vorhanden: Kindergärten, Schulen, ein Bürgerhaus. Immerhin gesteht sie zu, dass dem weit auseinandergezogenen Wünsdorf mit seinen vier Ortsteilen bisher ein echtes, identitätstiftendes Zentrum fehle.

Pawelas zumindest will nicht mehr weg. „Nach 15 Jahren“, sagt er, „bin ich doch in Litauen auch fremd.“ Euphorie mag anders klingen. Aber Unglück auch.

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