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Russen, hauptsächlich Männer, stellen sich an, um eine kasachische Registrierung zu erhalten.

© dpa/AP/Denis Spiridonov

„Ihr werdet als Freiwillige gelten“: Putin will zehntausende Ukrainer für die Front zwangsrekrutieren

Der Kreml-Chef hat eine Teilmobilisierung in Russland gestartet. Und jetzt droht auch Bewohnern der besetzten Gebiete in der Ukraine ein Einsatz im Krieg.

Nach den gefälschten Referenden über den Anschluss der Oblaste Saporischschja und Cherson sowie der Volksrepubliken Donezk und Luhansk an Russland hat die Mobilisierung in den besetzten Gebieten der Ukraine begonnen.

Das Ziel der Provinzgouverneure: Es sollen sich sogenannte Freiwilligenbataillone bilden, die aus männlichen Ukrainern bestehen.

Die Verbände sollen sich bis zum 10. Oktober der regulären russischen Armee anschließen. In den besetzten Gebieten der Region Saporischschja hatte die Mobilisierung der Männer schon am 26. September begonnen, also einige Tage bevor die Referenden überhaupt zu Ende geführt wurden.

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Die Besatzer planen die Bildung von drei Bataillonen mit je 3.000 Männern. Bezirksleiter Jewhen Balizkij teilte den russischen Medien mit, dass auch sein Sohn Aleksandr in eines der Bataillone eingezogen worden sei.

Finde jemanden, der dich ersetzt.

Behördenmitarbeiter in den besetzten Gebieten

In den Gemeindeämtern des Ministeriums für Steuern und Abgaben wurden bereits Listen erstellt, wer für die Bataillone infrage kommt. Die Mitarbeiter der Gemeindeämter und anderer Behörden sollen die Mobilisierung dann sicherstellen.

Wie Wladimir M., der in Berdjansk, einer Küstenstadt unweit von Mariupol, lebt, dem Tagesspiegel sagte, sei es unmöglich, die Rekrutierung zu verweigern. Die Behördenmitarbeiter drohen mit Folgen für die Familien oder sagen: „Finde jemanden, der dich ersetzt.“

Eigentlich hatten die russischen Behörden erklärt, dass Bewohner der annektierten Gebiete in den kommenden fünf Jahren nicht eingezogen werden. Wenn man die Rekrutierer darauf anspreche, erzählt Wladimir, würde diese nur lachen und sagen: „Ihr werdet als Freiwillige gehen!“

Wladimir will sich bei der ersten Gelegenheit der ukrainischen Armee ergeben. Nach Angaben des geflohenen Bürgermeisters von Melitopol, Iwan Fjodorow, dürfen Männer im Alter von 18 bis 35 Jahren im Dorf Wasiljewka, dem einzigen Übergangspunkt an der Front in dieser Region, nicht mehr in die Ukraine ausreisen.

1200
Dollar Schmiergeld zahlen offenbar Männer, um Checkpoints passieren zu können.

Der Kontrollpunkt wird demnach von tschetschenischen Kämpfern kontrolliert. Manche Männer sollen für ein Schmiergeld von 1200 Dollar durch den Checkpoint gelassen worden sein. Fjodorow schreibt in seinem Telegramm-Kanal zur Mobilisierung der Ukrainer in den besetzten Gebieten: „Sobald die erforderliche Anzahl von ‘Freiwilligen’ gesammelt ist, werden sie mit Militäruniformen ausgestattet, erhalten Waffen und werden in die Schützengräben geschickt, um das russische Territorium zu verteidigen.“

Der Bürgermeister von Melitopol fordert die Männer im wehrpflichtigen Alter auf, jede Möglichkeit der Ausreise zu nutzen, zur Not auch über die besetzte Krim nach Russland und dann nach Georgien. Ein anderer ukrainischer Offizieller rät den Menschen, den Wohnsitz zu ändern sowie Kontrollpunkte zu meiden und sich vor Patrouillen zu verstecken.

Fedorov verspricht auch einen Leitfaden für die, die sich an der Front schnell ergeben wollen. Schon eine Woche vor dem Pseudo-Referendum in der Region Cherson hatte der dort eingesetzte Verwalter Vladimir Saldo die Aufstellung von Freiwilligenbataillonen angeordnet. Das ukrainische Zentrum für Nationalen Widerstand, das Partisanenaktivität in den besetzten Gebieten koordiniert, spricht von 8000 Männern, die eingezogen werden sollen. Ihre Namen sind auf einer Liste vermerkt.

Offenbar ist es unmöglich, auf die ukrainische Seite der Front zu fliehen

Noch würden Männer nicht einfach von der Straße weg verpflichtet, sagte Grigorij D., der in der Region Cherson wohnt, dem Tagesspiegel. Aktuell sei es aber unmöglich, auf die ukrainische Seite der Front zu fliehen.

„Wir haben kein eigenes Auto“, schrieb ein anderer Mann aus Cherson in einer verschlüsselten Nachricht an den Tagesspiegel. „Also haben meine Kameraden und ich versucht, einen Fahrer zu finden. Niemand hat dem zugestimmt. Wir gehen sehr selten raus und versuchen, keinen Kontakt zu den Besatzungsbehörden aufzunehmen.“

Russische Soldaten sitzen in einem Bus in der Nähe eines Rekrutierungszentrums.
Russische Soldaten sitzen in einem Bus in der Nähe eines Rekrutierungszentrums.

© Foto: Uncredited/AP/dpa

Die Besatzer würden seine persönlichen Daten nicht kennen, weil er keinen russischen Pass und keine humanitäre Hilfe erhalten habe. Er wolle sich verstecken und darauf warten, dass die ukrainischen Truppen die Region befreien.

Mobilisierung in Luhansk ohne Altersgrenze oder Eignungsprüfung

In der Region Luhansk, die seit acht Jahren besetzt ist, führen die von Russland eingesetzten Verwalter eine umfassende Mobilisierung durch. Dem Leiter der ukrainischen regionalen Militärverwaltung, Serhiy Gayday, zufolge sollen alle Männer eingezogen werden. Altersgrenzen gebe es nicht, auch keine medizinische Eignungsprüfung.

Die selbsternannten Separatistentruppen aus Luhansk haben seit Kriegsbeginn enorme Verluste erlitten. Auch medizinisches Personal werde teilweise an die Front geschickt.

Offiziellen Angaben zufolge werden auch Chirurgen, Anästhesisten, Sanitäter und sowie Krankenschwestern rekrutiert. Bei der „Einberufung“ solcher Spezialisten wird demnach deren Erfahrung im Umgang mit Kampfverletzungen berücksichtigt.

Alle militärischen Rekrutierungsbüros verfügen den Angaben zufolge bereits über Listen von Absolventen medizinischer Fakultäten, die sich im Gebiet der so genannten Volksrepublik Luhansk befinden. Chirurgen, Anästhesisten und Traumatologen werden bis zu 60 Jahren, Krankenschwestern und Sanitäter bis zum Alter von 55 eingezogen.

Eine Einwohnerin von Luhansk erzählte am Telefon die Geschichte ihres Freundes, eines Notarztes. Dieser wurde gezwungen, zusammen mit allen Ärzten des Krankenhauses an dem Referendum teilzunehmen. Sie erhielten direkt im Wahllokal einen Einberufungsbescheid. Der Notarzt solle nun in einem Feldlazarett arbeiten, berichtete sie. Verweigere er sich, drohe Gefängnis, was einem Todesurteil gleichkomme.

Auch in der Stadt Mariupol soll es Zwangsrekrutierungen geben. 10.000 Bewohner sollen offenbar an die Front. Die Zahl der Bewohner, die Stadt verlassen durften, hat zuletzt stark abgenommen. Wie die aus Mariupol auf ukrainisches Gebiet geflohene Tajana K. berichtete, werden auch SMS verschickt, die die Bürger dazu auffordern, sich im örtlichen Rekrutierungsbüro zu melden. Selbst sie habe vor der Flucht noch eine solche SMS bekommen.

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