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Erdogan erklärt sich zum Sieger.

© REUTERS/MURAD SEZER

Update

„Mit euch gehen wir zu neuen Siegen“: Erdoğan beginnt nach der Stichwahl direkt den nächsten Wahlkampf

Kılıçdaroğlu kann die 20-jährige Herrschaft Erdoğans nicht beenden. Was das Ergebnis der Stichwahl für die Türkei bedeutet.

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Nichts liebt Recep Tayyip Erdoğan so sehr wie Wahlkämpfe. Kaum stand am Sonntagabend sein Sieg bei der Stichwahl um das türkische Präsidentenamt fest, begann der 69-Jährige mit dem Wahlkampf für die Kommunalwahlen im kommenden Jahr, bei denen er die Metropole Istanbul für seine Partei AKP zurückgewinnen will.

„Mit euch gehen wir zu neuen Siegen“, sagte Erdoğan in einer Ansprache vor Anhängern in Istanbul. Dann flog er nach Ankara, wo er später am Abend eine weitere Siegesrede halten wollte.

.„Wir haben das Tor zum Jahrhundert der Türkei aufgestoßen“, sagte Erdoğan. Der Präsident regiert seit 20 Jahren und prägt die vor hundert Jahren gegründete Republik länger als jeder türkische Politiker vor ihm. Nach seinem Sieg vom Sonntag wird er bis 2028 regieren können; er hat bereits eine Verfassungsänderung ins Gespräch gebracht, die ihm danach eine weitere Amtszeit ermöglichen würde.

Erdoğan erhielt 52,14 Prozent der Stimmen, Kılıçdaroğlu 47,86 Prozent, wie die Wahlbehörde nach Auszählung von 99,43 Prozent der Stimmen mitteilte. 

Türkische Wähler in Deutschland stimmten zu fast 67 Prozent für Erdogan

Damit blieb Erdoğan bei der ersten Stichwahl um das Präsidentenamt in der Geschichte der Türkei unter seinem Ergebnis der letzten Wahl im Jahr 2018, als er auf 52,6 Prozent gekommen war. Die Wahlbeteiligung betrug 85,6 Prozent, nach 88,8 Prozent am 14. Mai.

Laut Anadolu stimmten türkische Wähler in Deutschland beim Stand von 78,5 Prozent der ausgezählten Stimmen zu 67,6 Prozent für Erdoğan; bei den insgesamt 1,9 Millionen Wählern im Ausland lag Erdoğan mit 59 Prozent vorn. Am Wahlausgang änderten diese Stimmen aber nichts: Der Abstand zwischen Erdoğan und Kılıçdaroğlu betrug rund 2,2 Millionen Stimmen.

Die Wahlbeteiligung in kurdischen Provinzen fiel

Nach ersten Einschätzungen von Experten scheiterte Kılıçdaroğlu an der Zurückhaltung der kurdischen Wähler, die er nach der ersten Runde der Wahl am 14. Mai mit rechtsnationalistischen Parolen abgeschreckt hatte. Kılıçdaroğlu hatte sich vor der Stichwahl mit dem Rechtsnationalisten Ümit Özdag verbündet und zugesagt, wie die Regierung Erdoğan gegen kurdische Lokalpolitiker vorzugehen.

Das rächte sich am Sonntag: Die Wahlbeteiligung in kurdischen Provinzen, die für Kılıçdaroğlu besonders wichtig waren, fiel im Vergleich zur ersten Runde um bis zu sieben Prozent.

Nun beginne in der Opposition die Abrechnung, schrieb die Journalistin Nevsin Mengü auf Twitter. Kılıçdaroğlu habe das Leben und die Zukunft von Millionen Menschen seinem persönlichen Ehrgeiz geopfert, kommentierte der regierungskritische Anwalt Ali Gül.

Der 74-jährige Kılıçdaroğlu wird sich nach der Niederlage der Forderung stellen müssen, als Vorsitzender der Oppositionspartei CHP zurückzutreten. Das könnte einen Generationswechsel in der Opposition einleiten. Kılıçdaroğlu hatte seine Wahlniederlage vor Bekanntgabe des offiziellen Ergebnisses indirekt eingeräumt. Er bedauere „die weit größeren Probleme“, die das Land nun erwarteten, sagte er am Sonntag in Ankara.

Damit deutete er an, dass Amtsinhaber Recep Tayyip Erdoğan die Stichwahl gewonnen hat, sagte dies aber nicht direkt. Er werde weiter für Demokratie kämpfen, sagte Kılıçdaroğlu. „Bei dieser Wahl ist der Wille des Volkes für den Wechsel einer autoritären Regierung trotz aller Repressionen deutlich zum Ausdruck gekommen.“ „Wir haben den unfairsten Wahlkampf der letzten Jahre erlebt“, sagte Kılıçdaroğlu. „Alle Staatsmittel wurden für eine politische Partei mobilisiert und einem Mann zu Füßen gelegt.“

Erdoğan wird voraussichtlich im Juni seinen Amtseid ablegen. Die Wirtschaft sei das „Problem Nummer Eins“ für den Präsidenten nach der Wahl, sagt der Wirtschaftsexperte Emre Peker von der Beratungsfirma Eurasia. Erdoğans Niedrigzins-Politik trotz hoher Inflation sei auf Dauer nicht durchzuhalten, sagte Peker in einer Online-Veranstaltung der Denkfabrik Washington Institute.

Zwar könne die Türkei erst einmal auf Mehreinnahmen aus der Tourismus-Sommersaison und vielleicht auch auf weitere finanzielle Unterstützung aus arabischen Staaten und Russland hoffen. Doch noch vor Jahresende müsse es wegen leerer Staatskassen eine Kehrtwende geben, sagte Peker mit Blick auf nötige Zinserhöhungen, die Erdogan bisher ausschließt. Experten wie Peker rechnen mit neuen Wertverlusten der Lira an diesem Montag.

Wie geht es weiter in der Türkei?

Das gesellschaftliche Klima im Land dürfte sich nach der Wahl weiter verschärfen. Mit Blick auf die Kommunalwahl im kommenden Jahr könnte Erdoğan versuchen, die Justiz zu einer raschen Bestätigung des Politikverbots gegen den Istanbuler Bürgermeister Ekrem Imamoglu zu drängen; Imamoglu hatte das Bürgermeisteramt 2019 von Erdogans AKP erobert und ist einer der Hoffnungsträger der Opposition.

Vom Verfassungsgericht erwartet die Regierung das Verbot der Kurdenpartei HDP, die bei der Parlamentswahl vor zwei Wochen unter dem Dach einer Ersatz-Partei antrat und fast fünf Millionen Stimmen und 61 Sitze gewann.

Nach dem Rechtsruck bei der Parlamentswahl könnten Islamisten und Nationalisten in der Volksvertretung neue Verbote und Einschränkungen für Homosexuelle und Frauen beschließen. Der Politikwissenschaftler Berk Esen verwies im Fernsehsender Sözcü darauf, dass Erdoğan im Parlament für Gesetzesvorhaben die Zustimmung radikaler Splitterparteien brauchen werde. Das gebe diesen Parteien Macht über den Kurs der Regierung: „Deshalb könnte das Parlament künftig in den Lebensstil der Bürger eingreifen.

„Den ersten Auftritt des Präsidenten auf der politischen Bühne Europas wird es schon in den kommenden Tagen geben. Erdoğan wird am Donnerstag beim zweiten Gipfeltreffen der EU mit europäischen Nachbarstaaten in Moldawien erwartet.

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