zum Hauptinhalt
In der Provinz Hatay steht eine Frau in den Trümmern ihres Hauses.

© AFP/ YASIN AKGUL

Update

Erdbeben in Syrien und der Türkei: Einsatzkräfte melden insgesamt 22.000 Todesopfer

Die verzweifelte Suche nach Überlebenden geht weiter. Auch vier Tage nach dem tragischen Erdbeben kommt es immer wieder zu unglaublichen Rettungen.

| Update:

Vier Tage nach den verheerenden Erdbeben in der Grenzregion zwischen der Türkei und Syrien ist die Zahl der Toten auf über 22.000 gestiegen. In der Türkei wurden bis Freitagnachmittag 20.213 Leichen gezählt, wie Präsident Recep Tayyip Erdogan mitteilte. Mehr als 74.000 Menschen erlitten Verletzungen.

In Syrien meldeten die Behörden 3300 Tote. Rettungskräfte und Helfer, darunter Spezialisten aus Dutzenden Ländern, arbeiteten rund um die Uhr, um im Wettlauf gegen die Zeit mögliche Überlebende in den Schuttbergen zu finden. 

Erdogan bezeichnete das Erdbeben als eine der größten Katastrophen in der Geschichte der Türkei. Man habe mehr als 76.000 Menschen aus dem Erdbebengebiet heraus in andere Provinzen evakuiert.

Unter den Tausenden eingestürzten Gebäuden im türkisch-syrischen Grenzgebiet sind vermutlich noch Zehntausende Erdbebenopfer zu befürchten.

Überall im Unglücksgebiet suchten Helfer in der Nacht zum Freitag weiter nach möglichen Überlebenden. Neuen Elan bekamen sie durch die Rettung von Melda Adtas in Antakya. Das Mädchen wurde laut dem Bericht eines AFP-Korrespondenten mehr als 80 Stunden nach dem Beben aus einem eingestürzten Gebäude gerettet.

Helfer transportieren die gerettete Melda aus den Trümmern von Antakya.
Helfer transportieren die gerettete Melda aus den Trümmern von Antakya.

© IMAGO/Umit Turhan Coskun

Inmitten der unvorstellbaren Verzweiflung im türkisch-syrischen Erdbebengebiet hat die Rettung eines 16-jährigen Mädchens für Hoffnungsschimmer gesorgt.

Außerdem konnte ein zehn Monate altes Baby mit seiner Mutter von Helfern gerettet werden - die beiden harrten 90 Stunden unter den Trümmern aus. Die Helfer im Bezirk Samandag der Provinz Hatay umwickelten den Säugling mit einer Wärmedecke, wie Bilder zeigten.

In der Region haben die Einsatzkräfte nach 102 Stunden zudem eine sechsköpfige Familien unter den Trümmern lebend geborgen. Die Eltern mit ihren Kindern zwischen 15 und 24 Jahren seien ins Krankenhaus gebracht worden, meldete die staatliche Nachrichtenagentur Anadolu.

Ein Nachbarspaar aus demselben Gebäude sei nach 107 Stunden gerettet worden. Die Helfer jubelten und klatschen als sie die Frau auf einer Trage zum Krankenwagen brachten. Die Frau winkte den Rettern zu, wie auf CNN Türk zu sehen war. Die Reporterin des Senders brach vor Freude in Tränen auf.

Die Rettung erfolgte in der Stadt Iskenderun in der Provinz Hatay, die besonders stark vom Beben getroffen wurde. In der Provinz wurden zudem eine 21-Jährige und siebenjähriger Bruder nach 107 Stunden lebend geborgen, wie die an der Rettung beteiligte Feuerwehr der Küstenstadt Antalya mitteilte. 

In Hatay retteten Helfer zudem einen Mann nach 101 Stunden unter Trümmern. Die Rettungskräfte benötigten zehn Stunden, um ihn unter einem Betonblock zu befreien, wie der Sender CNN Türk berichtete.

Im Nordwesten Syriens ist am Freitag ein sechsjähriger Junge aus den Trümmern gerettet worden. Örtliche Einsatzkräfte bargen unter dem Jubel der Umstehenden den kleinen Mussa Hmeidi in dem Ort Dschandairis.

Das Kind stand unter Schock und wies Verletzungen am Gesicht auf. Die Einsatzkräfte setzten nach dem Erfolg die Suche nach Verwandten des Jungen fort. 

Geophysiker rechnet mit maximal 67.000 Todesopfern

Ein deutscher Experte rechnet mit schlimmstenfalls 67.000 Toten. „Schnelle Hochrechnungen auf Basis empirischer Schadensmodelle lassen zwischen 11.800 bis rund 67.000 Todesopfer erwarten“, erklärte Andreas Schäfer vom Geophysikalischen Institut am Karlsruher Institut für Technologie (KIT), der Forschungsuniversität in der Helmholtz-Gemeinschaft, am Donnerstag.

Mit jeder Stunde, die seit dem Erdbeben verstreicht, sinken die Chancen, noch Lebende zu finden. Mehr als 100.000 Helfer sind in der Türkei nach Regierungsangaben im Einsatz. Sie werden von Suchhunden unterstützt.

Am frühen Montagmorgen hatte ein Beben der Stärke 7,7 das türkisch-syrische Grenzgebiet erschüttert. Montagmittag folgte dann ein weiteres Beben der Stärke 7,6 in derselben Region.

In Golbasi in der Türkei stehen und sitzen Menschen vor eingestürzten Gebäuden.
In Golbasi in der Türkei stehen und sitzen Menschen vor eingestürzten Gebäuden.

© dpa/Emrah Gurel

Die Bundesregierung arbeitet mit daran, die Versorgung der Menschen im schwer erreichbaren Nordsyrien zu verbessern. Das Problem sei, dass das „Regime“ zuletzt keine humanitäre Hilfe ins Land gelassen habe, sagte Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) am Donnerstag im WDR-Radio.

Die Regierung in Damaskus kündigte am Freitag an, Hilfslieferungen in von Rebellen kontrollierte syrische Gebiete zu erlauben. Die Regierung billige „die Lieferung humanitärer Hilfe in alle Teile der Arabischen Syrischen Republik“, hieß es am Freitag in einer Mitteilung des Kabinetts.

Die Verteilung der Hilfsgüter solle unterstützt von der UNO vom Syrischen Roten Halbmond sowie vom Internationalen Komitee vom Roten Kreuz und Roten Halbmond beaufsichtigt werden, hieß es weiter.

Die verbotene Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) will indes vorläufig alle Angriffe in der Türkei einstellen, um Kräfte für den Rettungseinsatz zu bündeln. „Wir haben entschieden, keine Angriffe auszuführen, solange uns der türkische Staat nicht angreift“, sagte PKK-Führer Cemil Bayik. 

Die Kampfpause werde so lange andauern, „bis der Schmerz unseres Volkes gelindert ist und seine Wunden geheilt sind“, fügte er hinzu. Die Vereinten Nationen hatten zuvor einen sofortigen vollständigen Waffenstillstand in Syrien gefordert, um Hilfseinsätze zu erleichtern. 

Mehr als 5 Millionen Syrer obdachlos

Nach Schätzungen der UNO sind durch das Erdbeben bis zu 5,3 Millionen Menschen in Syrien obdachlos geworden. „Das ist eine gewaltige Zahl und sie trifft eine Bevölkerung, die bereits unter Massenvertreibungen leidet“, sagte der Vertreter des UN-Flüchtlingshilfswerks (UNHCR) in Syrien, Sivanka Dhanapala.

Nach dem Willen mehrerer Abgeordneter von Bund und Ländern sollen Überlebende der Katastrophe kurzfristig unbürokratisch bei Verwandten in Deutschland unterkommen können, wenn diese für den Lebensunterhalt der Angehörigen aufkommen.

Das Auswärtige Amt teilte unterdessen mit, dass türkische und syrische Staatsangehörige auch nach dem Erdbeben für eine Einreise nach Deutschland ein Visum benötigten.

Hilfsgüter erreichen Unglücksregionen

Die internationale Hilfe kam derweil immer mehr in Schwung. Die Weltbank sagte der Türkei 1,78 Milliarden Dollar (rund 1,66 Milliarden Euro) zu. Die USA kündigten ihrerseits ein erstes Hilfspaket in Höhe von 85 Millionen Dollar für die Türkei und Syrien an. Es gehe nun vor allem um Nahrungsmittel, Unterkünfte und medizinische Notversorgung.

Die Nato-Mitgliedstaaten wollen der Türkei zudem Notunterkünfte zur Verfügung stellen. Das Militärbündnis stehe „in starker Solidarität mit unserem Verbündeten Türkei“, sagte Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg am Freitag in Brüssel.

„Die Bereitstellung dieser Unterkünfte wird dazu beitragen, Leben zu retten“, fügte er hinzu. Die Übergangsunterkünfte werden normalerweise von den Nato-Truppen als Hauptquartiere für Militäreinsätze und Übungen genutzt. Nach Nato-Angaben bieten sie Platz für Heizungen und Stromgeneratoren und können auch als medizinische Behandlungsräume genutzt werden.

Auch die Hilfen aus Deutschland nahmen an Fahrt auf. Nach Angaben des Technischen Hilfswerks (THW) flogen am Donnerstag drei A400M-Flugzeuge der Bundeswehr mit 55 Tonnen Hilfsgütern wie Zelten, Heizlüftern und Schlafsäcken in die Türkei.

Empfohlener redaktioneller Inhalt

An dieser Stelle finden Sie einen von unseren Redakteuren ausgewählten, externen Inhalt, der den Artikel für Sie mit zusätzlichen Informationen anreichert. Sie können sich hier den externen Inhalt mit einem Klick anzeigen lassen oder wieder ausblenden.

Ich bin damit einverstanden, dass mir der externe Inhalt angezeigt wird. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr Informationen dazu erhalten Sie in den Datenschutz-Einstellungen. Diese finden Sie ganz unten auf unserer Seite im Footer, sodass Sie Ihre Einstellungen jederzeit verwalten oder widerrufen können.

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier appellierte an die Menschen in Deutschland, den Betroffenen in der Katastrophenregion zu helfen. „Die Menschen, denen das Erdbeben alles genommen hat, brauchen jetzt unsere Hilfe“, sagte er in einer Videobotschaft.

Weißhelme kritisieren „routinemäßige“ Hilfe für Syrien

Zur Unterstützung der nur schwer erreichbaren Erdbeben-Opfer im Nordwesten Syriens trafen am Donnerstag sechs Lastwagen mit Hilfsgütern der Vereinten Nationen ein. Die Transporter seien aus der Türkei gestartet und passierten demnach den einzigen noch offenen Grenzübergang Bab al-Hawa, hieß es von den UN.

Der Grenzübergang war schon vor dem Erdbeben eine Lebensader für rund 4,5 Millionen Menschen im Nordwesten des Landes, die nicht von der syrischen Regierung kontrolliert werden.

90 Prozent der Bevölkerung waren dort bereits vor der Katastrophe nach UN-Angaben auf humanitäre Hilfe angewiesen. In der Region leben Millionen Menschen, die durch Kämpfe in Syrien vertrieben wurden.

Die in der Region tätige Hilfsorganisation der Weißhelme zeigte sich enttäuscht, dass es sich um „routinemäßige“ Hilfe handele und keine Ausrüstung für Bergungsarbeiten nach dem Beben.

Empfohlener redaktioneller Inhalt

An dieser Stelle finden Sie einen von unseren Redakteuren ausgewählten, externen Inhalt, der den Artikel für Sie mit zusätzlichen Informationen anreichert. Sie können sich hier den externen Inhalt mit einem Klick anzeigen lassen oder wieder ausblenden.

Ich bin damit einverstanden, dass mir der externe Inhalt angezeigt wird. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr Informationen dazu erhalten Sie in den Datenschutz-Einstellungen. Diese finden Sie ganz unten auf unserer Seite im Footer, sodass Sie Ihre Einstellungen jederzeit verwalten oder widerrufen können.

Zur Unterstützung der Hilfsaktionen in Syrien, aber offenbar auch, um ein Zeichen zu setzen, reiste die Präsidentin des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK) in das Bürgerkriegsland. „Ich bin heute Abend - mit trauerndem Herzen - in Aleppo in Syrien eingetroffen“, erklärte Mirjana Spoljaric am Donnerstagabend auf Twitter.

Kurz zuvor hatte der Generaldirektor der Weltgesundheitsorganisation (WHO), Tedros Adhanom Ghebreyesus, mitgeteilt, dass er „auf dem Weg nach Syrien“ sei. Die Vereinten Nationen kündigten an, dass ihr Nothilfekoordinator Martin Griffiths an diesem Wochenende in die Erdbebengebiete in der Türkei und Syrien reisen werde. 

Aktivisten hatten zuvor berichtet, dass nach dem Beben zwar keine Hilfsgüter, stattdessen aber Leichen von Syrern aus der Türkei über den Grenzübergang transportiert würden. In der Türkei leben Millionen syrische Flüchtlinge.

Eine Frau spricht in ihr Handy, während Rettungskräfte ein zerstörtes Gebäude in Gaziantep durchsuchen.
Eine Frau spricht in ihr Handy, während Rettungskräfte ein zerstörtes Gebäude in Gaziantep durchsuchen.

© dpa/Kamran Jebreili

Dem Sender TRT World zufolge konnten in der Türkei bislang etwa 8000 Menschen aus den Trümmern gerettet werden. Eine Reporterin des Fernsehkanals berichtete über den verzweifelten Kampf gegen die Zeit: „Die Retter weigern sich aufzugeben.“ Aber die Momente der Freude über eine weitere Rettung würden immer seltener.

Der türkische Präsident Erdogan wollte noch am Donnerstag vom Parlament in Ankara den erdbebenbedingten Ausnahmezustand bestätigen lassen. Ein entsprechendes Dekret werde er der Nationalversammlung in Ankara vorlegen, sagte er in Gaziantep.

Erdogan hatte am Dienstag für die zehn vom Erdbeben betroffenen Regionen einen dreimonatigen Ausnahmezustand angekündigt, der noch vom Parlament bestätigt werden muss.

Das Kabinett unter Erdogan kann mit der Maßnahme unter anderem beschließen, Ausgangssperren zu verhängen. Der Fahrzeugverkehr kann außerdem zu bestimmten Zeiten oder in bestimmten Gegenden verboten werden, und Versammlungen und Demonstrationen können untersagt werden. Erdogan hat seit 2018 unter dem derzeitigen Präsidialsystem ohnehin weitreichende Befugnisse. (dpa, Reuters, AFP)

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false