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So kam es zu Frankreichs Rekorddefizit: „Wir waren kollektiv süchtig nach Schulden“
Ex-Finanz- und Wirtschaftsminister Bruno Le Maire will nicht der Buhmann sein, der Frankreichs enorme Staatsverschuldung verantworten muss. Aber gewarnt hat er auch nicht. Rekonstruktion eines Versagens.
Stand:
Er hat mehrere Rekorde aufgestellt: Bruno Le Maire war als Finanz- und Wirtschaftsminister länger im Amt als jeder seiner Vorgänger – von Juni 2017 nach dem Wahlsieg Emmanuel Macrons bis September 2024, nach der vorgezogenen Parlamentswahl. Mehr als sieben lange Jahre waren das.
Daher steht er auch für die 1000 zusätzlichen Milliarden Euro Schulden, die Frankreich in dieser Zeit angehäuft hat. 2200 waren es bereits bei seinem Amtsantritt.
Der republikanische Innenminister Bruno Retailleau hatte aus diesem Grund im September gegen die überraschende Rückkehr des Langzeitministers in die Regierung rebelliert. Le Maire zog zurück. Er war damit nur 14 Stunden Minister gewesen. Ein weiterer Rekord.
Diese Zahlen lassen sich nicht leugnen. Aber Deutungsspielraum gibt es bei den Gründen für Frankreichs Rekordverschuldung, für die Le Maire nicht allein die Verantwortung übernehmen will.
Daher hat der 56-Jährige jetzt ausführlich mit der Tageszeitung „Liberation“ gesprochen – ebenso wie einige seiner Begleiter, Personen aus der Umgebung von Präsident Emmanuel Macron sowie Parlamentarier, die im Finanzausschuss saßen.
Daraus ergibt sich ein Bild des Wegschauens, der Tatenlosigkeit und des Opportunismus vieler Beteiligter. Aber auch eine bemerkenswerte Passivität des Ministers. Der Minister hatte es beispielsweise für falsch gehalten, lauter Alarm zu schlagen.
1 Unwirksame Warnungen
Le Maire verweist darauf, dass er mit Sonderausgaben von etwa 140 Milliarden Euro während der Corona-Krise und zur Abfederung der gestiegenen Energiekosten nach Russlands Überfall auf die Ukraine „die Wirtschaft“ und die „Arbeitsplätze“ gerettet hat.
„Ich habe seit 2021 gewarnt“, erklärt der Ex-Minister in dem Interview. „Aber die Wahrheit ist, dass niemanden die öffentlichen Finanzen interessiert haben.“

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Seine erste schriftliche Warnung habe er 2022 an den Premierminister Jean Castex und den Präsidenten geschickt. „Insgesamt 14 Nachrichten, die alle der Untersuchungskommission vorliegen.“
Allerdings: Auf die Frage der Journalisten von „Liberation“, ob er denn jemals mit Macron im Detail über die Finanzprobleme gesprochen habe, antwortete Le Maire nach kurzem Schweigen: „Nein, nein, niemals“.
Im Élysée-Palast hat man sich nach Angaben der Zeitung eher lustig gemacht über die Vorliebe für das Schriftliche des Ministers, der auch als Literat extrem fleißig war während seiner Amtszeit.

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In sieben Jahren publizierte er sechs Bücher, darunter auch Romane. Die Erotikszenen in seinem Buch „Amerikanische Flucht“ (Fugue americaine) hatten im Frühjahr 2023 viel Spott im politischen Paris ausgelöst.
Er hat mich nicht mal angerufen oder eine Nachricht hinterlassen.
Ex-Premierministerin Élisabeth Borne nach Aussagen Vertrauter über die Kommunikation mit ihrem Finanzminister
Auch Ex-Premierministerin Élisabeth Borne erinnert sich: Sie habe eine Mitteilung bekommen, dass sie Ausgaben von zehn Milliarden streichen solle. Diese schriftliche Notiz ging demnach allerdings just an dem Tag im März 2023 ein, an dem sie die umstrittene Rentenreform durchsetzte – mithilfe des Verfassungsparagrafen 49.3 ohne Abstimmung im Parlament.

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„Er hat mich nicht mal angerufen oder eine Nachricht hinterlassen“, soll Borne damals ihren Mitarbeitern gesagt haben. Und gefragt haben: „Was soll ich tun?“ De facto hat sie nichts getan.
Schweigen in der Öffentlichkeit
Warum ist der Finanzminister nicht an die Öffentlichkeit gegangen mit seinen Sorgen? „Unmöglich“, antwortet der Ex-Minister auf eine entsprechende Frage. An den Finanzmärkten wäre „Panik ausgebrochen“, die die Krise vergrößert hätte.
Er verweist zudem auf den späteren Premier François Bayrou, der in diesem Sommer vor seinem Sturz mit der Botschaft, dass Frankreich am finanziellen Abgrund stehe, hausieren gegangen war: „Das interessiert ein oder zwei Tage, dann ist ein anderes Thema dran“, glaubt Le Maire.
Vielleicht wollte er damals auch nicht zu laut herausposaunen, dass sein Finanzministerium einen fundamentalen Fehler gemacht hatte, der im Dezember 2023 erkennbar wurde: Es hatte die Steuereinnahmen für das kommende Jahr durch einen Fehler um 60 Milliarden zu hoch angesetzt.
2 Der Präsident und seine Agenda
Doch von alarmierenden Entwicklungen wollte laut Le Maire auch der Präsident nichts wissen. Im Januar 2024 berief Macron seinen Vertrauten Gabriel Attal zum Premier – der im Finanzminister einen Konkurrenten für eine Präsidentschaftskandidatur 2027 sah und dessen „angstauslösende Kommentare“ kritisierte.
Macron soll im Ministerrat, dem er wöchentlich vorsitzt, gesagt haben: „Es reicht, sprechen wir von etwas anderem als öffentliche Finanzen“. Keine Steuererhöhungen waren eines der Versprechen des Präsidenten in seinem Wahlkampf gewesen.
Im Finanzministerium habe ich hohe Beamte getroffen, die froh waren, dass endlich herauskam, was im Argen lag.
Jean-François Husson, Berichterstatter des Haushaltsausschusses nach seinem Besuch im Finanzministerium
Alarmiert von dem Chaos war aber wohl der Finanzausschuss der Assemblée Nationale. Der republikanische Berichterstatter des Gremiums, Jean-François Husson, fuhr am 24. März 2024 ins Finanzministerium, um sich vor Ort im Original die Zahlen und Nachweise anzusehen. Das war seit 25 Jahren nicht mehr vorgekommen.

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„Dort habe ich hohe Beamte getroffen, die froh waren, dass endlich herauskam, was im Argen lag“, erinnert sich Husson im Gespräch mit „Liberation“. Man habe danach eine Pressekonferenz gegeben, „aber merkwürdigerweise hat die Frage der öffentlichen Finanzen weder in der Öffentlichkeit noch im politischen Mikrokosmos eingeschlagen“.
Das war ein heftiger Schlag auf den Kopf.
Bruno Le Maire über Macrons Unwillen, vor der Europawahl Einschnitte im Haushalt auf den Weg zu bringen.
Allerdings überrascht das weniger, wenn man weiß, dass der zuständige Finanzminister öffentlich weiter verbreitete, dass alles nach Plan laufe.
Le Maire hoffte nach eigenen Angaben auf den Präsidenten, der aber kurz vor den Europawahlen im Juni 2024 keine Einschnitte oder Reformen machen wollte, über die die Regierung womöglich gestürzt wäre.

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„Das war wie ein heftiger Schlag auf den Kopf“, sagt Le Maire in „Liberation“. Vertraute raten ihm zum Rücktritt, aber das wäre für ihn „Fahnenflucht“ gewesen und er habe das Land nicht destabilisieren wollen.
Andere Beobachter sagen, dass der Langzeitminister viel zu machtsüchtig gewesen sei, um dem Präsidenten jemals wirklich zu widersprechen. Zudem er damals noch gehofft hatte, 2027 womöglich Nachfolger Macrons zu werden.
3 Verzögerung durch vorgezogene Neuwahlen
Die Europawahlen waren auch ohne ein Umsteuern wegen der immer desolateren Haushaltslage ein Fiasko für Macrons Partei: Sie erhielt nur 14 Prozent, während die Rechtspopulisten der Marine le Pen (RN) auf mehr als 30 Prozent kamen.
Daher hat die einsame Entscheidung des Präsidenten, daraufhin nationale Neuwahlen anzusetzen, das gesamte Land überrascht. Vor dem Hintergrund nötiger Reformen angesichts der Schuldenkrise hätte auch Macron klar gewesen sein müssen, dass dies eine lange Unterbrechung und Zeitverlust bedeuten würden.
Mit der Auflösung des Parlaments ist das Kartenhaus zusammengestürzt.
Bruno Le Maire, damaliger Wirtschafts- und Finanzminister
Womit er wohl nicht gerechnet hatte: Seither hat kein politischer Block mehr eine Mehrheit im polarisierten Parlament. Daher wechseln sich die Minderheitenregierungen ab. Für 2025 konnte kein neuer Haushalt verabschiedet werden, weshalb der alte verfassungsgemäß fortgeführt wurde.

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Auch Le Maire sieht den Präsidenten in der Verantwortung – macht aber zugleich keinen Hehl daraus, wie dramatisch die Finanzlage war: „Mit der Auflösung des Parlaments ist das Kartenhaus zusammengestürzt“, sagt er und ist sich sicher: „Sonst hätten wir durchhalten können, das Budget wäre nicht derart außer Kontrolle geraten.“
4 Das „süchtige“ Volk
Aber in den Augen Le Maires ist das gesamte Kollektiv aus Politik und Bürgern mitschuldig. „Wir sind süchtig nach Schulden geworden“, erklärt der Ex-Minister. Das sei eine Folge der Sonderausgaben in der Covid-Pandemie gewesen.
Damals hat die Regierung beispielsweise die Strom- und Gasrechnungen privater Haushalte stark subventioniert. „Die Krise hat alle Maßstäbe über den Haufen geworfen, einige haben Millionen und Milliarden verwechselt“.
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