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Russlands Präsident Wladimir Putin gibt sich auch im 16. Monat des Kriegs gegen die Ukraine unbeirrt.

© Imago Images/Action Press/Tass/Russian Presidential Press and Information Office

Verliert Putin jetzt den Rückhalt?: „Eliten haben Angst, zum Sündenbock für einen sinnlosen Krieg zu werden“

Zahlreiche Mitglieder der Moskauer Politik- und Wirtschaftselite äußern Zweifel, dass Russland den Krieg noch gewinnen kann. Die Nervosität wächst. Ein Sturz Putins droht wohl trotzdem nicht.

Zehntausende russische Soldaten fallen, Familien fürchten die Einberufung ihrer Söhne, russische Grenzorte werden angegriffen, Moskau mit Drohnen attackiert, die Sanktionen setzen dem Land zu: Der Krieg gegen die Ukraine wird für immer mehr Menschen in Russland immer greifbarer.

Nachdem es bereits in den vergangenen Monaten immer wieder internationale Medienberichte gegeben hatte, denen zufolge die Unterstützung der russischen Eliten für den Angriffskrieg von Präsident Wladimir Putin abnimmt, zeichnet die US-Nachrichtenagentur Bloomberg nun nach intensiver Recherche ein aktuelles Stimmungsbild.

Demnach sieht die Oberschicht in Russland die Aussichten dafür, den Krieg zu gewinnen, immer düsterer. Selbst diejenigen, die vorher zu den größten Optimisten zählten, halten demnach einen „eingefrorenen Konflikt“ für das beste Ergebnis, das der Kreml noch erzielen kann und das es Putin ermöglichen würde, den Russen einen Pyrrhussieg zu verkünden, indem er einen Teil des ukrainischen Territoriums besetzt halten könnte.

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„Die Eliten stecken in einer Sackgasse: Sie haben Angst, zum Sündenbock für einen sinnlosen Krieg zu werden“, erklärt Kirill Rogow, ein ehemaliger russischer Regierungsberater, der das Land nach der Invasion verließ und jetzt Re:Russia, eine in Wien ansässige Denkfabrik, leitet, Bloomberg. „Es ist wirklich überraschend, wie weit verbreitet in der russischen Elite die Vorstellung ist, dass Putin diesen Krieg nicht gewinnen wird.“

Die Angriffe in Belgorod zerstören endgültig den Mythos der Unbesiegbarkeit von Putins Militär.

Abbas Galljamow, Politologe

Viele in der politischen und wirtschaftlichen Elite seien des Krieges überdrüssig und wollten, dass er aufhört, heißt es in dem Bericht weiter. Bloomberg gibt an, für die Recherche mit sieben Personen aus dem Kreis der russischen Elite gesprochen zu haben. Alle wollten demnach aus Angst um ihre Sicherheit anonym bleiben.

Keine der sieben Personen glaube allerdings, dass Putin die Kämpfe in der Ukraine beenden werde. Es sei zwar niemand bereit, Putin die Stirn zu bieten, der absolute Glaube an seine Führung sei aber erschüttert, sagten demnach vier der Quellen.

Putin und seine Spitzenbeamten beharrten weiterhin darauf, dass Russland gewinnen wird, auch wenn nicht mehr ganz klar sei, was als Sieg gewertet werden könne, nachdem es seiner Armee nicht gelungen ist, Kiew zu Beginn des Krieges einzunehmen, heißt es in dem Bericht.

Die wachsenden Zweifel würden wahrscheinlich auch zu schärferen Auseinandersetzungen im Moskauer Machtapparat führen, heißt es in dem Bericht weiter. Schon jetzt gibt es zum Teil offene Grabenkämpfe zwischen den Militärs und Privatarmeen wie Wagner.

Da sich der Kreml einer ukrainischen Gegenoffensive gegenübersehe, die von den USA und Europa mit Waffen im Wert von vielen Milliarden Euro unterstützt werde, seien die Erwartungen nach einem wenig erfolgreichen Winter mit hohen Verlusten gering, dass es zu nennenswerten Fortschritten auf dem Schlachtfeld kommen werde.

Durch die Sprengung des Kachowka-Staudamms im Süden der Ukraine, für die sich Kiew und Moskau gegenseitig verantwortlich machen, verkompliziere sich die Lage zusätzlich.

Die jüngsten wiederholten Angriffe auf russisches Territorium wie die Drohnenattacken auf Moskau verstärkten zudem das Gefühl der Unsicherheit im Land. Auch dass die Kämpfe sich auf die an die Ukraine grenzende Region Belgorod ausgeweitet haben, stelle Putins Image als Garant für Russlands Sicherheit infrage.

Die Angriffe in Belgorod zerstören endgültig den Mythos der Unbesiegbarkeit von Putins Militär“, sagt der Politologe Abbas Galljamow der Nachrichtenagentur dpa. Für viele Russen sei der Glaube an die Stärke russischer Waffen stets das wichtigste Kriegsargument gewesen. Galljamow ist der Ansicht, der Machtapparat verliere durch nichts so sehr an Rückhalt wie durch die Unfähigkeit, die Menschen zu schützen.

Wir sind in einem solchen Zustand, dass wir Russland verdammt noch mal verlieren könnten.

 Jewgeni Prigoschin, Gründer und Chef der Söldnergruppe Wagner

Selbst diejenigen, die den Einmarsch in die Ukraine unterstützten, seien nun nicht mehr von einem Erfolg in dem Krieg, der eigentlich innerhalb weniger Tage beendet sein sollte und nun seit 16 Monaten andauert, überzeugt. Dazu trügen auch die Kontroversen von Nationalisten unter der Führung von Jewgeni Prigoschin, dem Gründer und Chef der Söldnergruppe Wagner, mit der Militärführung bei.

Prigoschin und andere haben Verteidigungsminister Sergej Schoigu und Russlands Armeechef Waleri Gerassimow immer wieder wegen militärischer Versäumnisse angegriffen, drängen auf eine umfassende Mobilisierung und das Kriegsrecht, um eine möglicherweise katastrophale Niederlage abzuwenden.

Jewgeni Prigoschin, Chef der Söldnertruppe Wagner, kritisiert die russische Militärführung immer wieder scharf.
Jewgeni Prigoschin, Chef der Söldnertruppe Wagner, kritisiert die russische Militärführung immer wieder scharf.

© dpa/AP/Prigoschin Pressedienst/Uncredited

Prigoschin hatte am 24. Mai davor gewarnt, dass in Russland eine Revolution ausbrechen und das Land den Krieg gegen die Ukraine verlieren könnte. Wenn die Kinder gewöhnlicher Russen weiterhin in Särgen zurückkämen, während die Kinder der Elite sich im Ausland sonnten, drohe im Russland ähnlicher Aufruhr wie bei den Revolutionen von 1917, die in einen Bürgerkrieg gemündet seien.

Die Ukraine werde versuchen, die Stadt Bachmut im Osten einzukreisen und die Halbinsel Krim anzugreifen. „Höchstwahrscheinlich wird dieses Szenario nicht gut für Russland sein. Also müssen wir uns auf einen harten Krieg vorbereiten“, sagte Prigoschin in einem auf seinem Telegram-Kanal veröffentlichten Interview. „Wir sind in einem solchen Zustand, dass wir Russland verdammt noch mal verlieren könnten – das ist das Hauptproblem. Wir müssen das Kriegsrecht verhängen“, sagte der Wagner-Chef.

„Es wurden zu viele große Fehler gemacht“, sagte wiederum Sergej Markow, ein politischer Berater mit engen Beziehungen zum Kreml, zu Bloomberg. „Vor langer Zeit gab es Erwartungen, dass Russland die Kontrolle über einen Großteil der Ukraine übernehmen würde, aber diese Erwartungen haben sich nicht erfüllt.“

Die meisten in der Elite hielten sich in dieser Lage zurück und würden ihrer Arbeit nachgehen, weil sie überzeugt seien, dass sie die Ereignisse nicht beeinflussen könnten, sagte mehrere der Quellen. Staatliche russische Medien erklärten die wiederholten Rückschläge immer wieder damit, dass Russland in der Ukraine einen Stellvertreterkrieg gegen die USA und seine Verbündeten der Nato führe – obwohl es Putin war, der die Invasion ohne Grund im Februar 2022 befahl.

300.000
russische Reservisten hatte Wladimir Putin einberufen lassen.

In dem Bericht heißt es weiter, der Kreml habe gegen Kritiker die härtesten Repressionen seit Jahrzehnten verhängt und bestrafe selbst leichte Meinungsverschiedenheiten mit Gefängnisstrafen.

Die russische Mittelschicht, die in den vergangenen zehn Jahren in den Großstädten die Grundlage für die Opposition gegen Putins Herrschaft bildete, wurde zum Schweigen gebracht oder habe das Land im Rahmen der größten Auswanderungswelle seit den 1990er Jahren nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion verlassen.

Bisher zeigten die Umfragen, dass die meisten Russen weiterhin hinter Putin stünden, der die Nostalgie der Sowjetzeit mit der imperialen Vergangenheit Russlands vermische, um zu behaupten, dass er die Interessen des Landes verteidigt und Land zurückerobert, indem er Gebiete im Osten und Süden der Ukraine annektierte, so der Bericht.

Wie Bloomberg unter Berufung auf Umfragen weiter schreibt, sei die Besorgnis in der russischen Bevölkerung auf einen Höchstwert geklettert, nachdem Putin im vergangenen Herbst die Einberufung von 300.000 Reservisten ankündigt hatte.

Eine vom 19. bis 21. Mai durchgeführte Umfrage des Meinungsforschungsinstituts FOM unter 1.500 Russen habe nun ergeben, dass 53 Prozent der Befragten der Meinung waren, ihre Familie und Freunde seien besorgt. Dies sei ein Anstieg um elf Prozentpunkte seit April und der höchste Wert seit fast vier Monaten.

Ein ukrainischer Soldat feuert einen Granatwerfer auf russische Stellungen an der Frontlinie in der Nähe von Bachmut.
Ein ukrainischer Soldat feuert einen Granatwerfer auf russische Stellungen an der Frontlinie in der Nähe von Bachmut.

© dpa/AP/Efrem Lukatsky

Der Bericht zitiert auch Konstantin Malofejew, einen russisch-orthodoxen Nationalisten und Anhänger Putins. Dieser will, dass Russland weiterkämpft, denn „der ukrainische Staat sollte aufhören zu existieren“. Er lehnt jedes Gespräch über einen Waffenstillstand ab, sagt aber auch, dass viele Mitglieder der herrschenden Elite, einschließlich einer „großen Anzahl“ von Geschäftsleuten, die jüngste Friedensinitiative Chinas unterstützen würden, die einen Waffenstillstand vorsieht.

„Sie sagen, dass sie die spezielle Militäroperation unterstützen, aber in Wirklichkeit sind sie dagegen“, sagte Malofejew, ein Multimillionär, der auch eine Freiwilligentruppe für den Kampf in der Ukraine sponsert.

Konstantin Malofejew ist ein Anhänger Wladimir Putins. Der sponsert auch eine Freiwilligentruppe für den Kampf in der Ukraine.
Konstantin Malofejew ist ein Anhänger Wladimir Putins. Der sponsert auch eine Freiwilligentruppe für den Kampf in der Ukraine.

© Imago/Itar-Tass/Sergei Savostyanov

Die Ukraine hat eine Beilegung des Konflikts, bei der Russland einen Teil ihres Territoriums besetzt hält, ausgeschlossen und beginnt nun mit der Gegenoffensive, die seit Monaten vorbereitet wurde. „Es ist an der Zeit, das zurückzuerobern, was uns gehört“, sagte der ukrainische Oberbefehlshaber Valeriy Zaluzhnyi am 27. Mai in einem Telegrampost.

Die Politologin Tatjana Stanowaja wies im Gespräch mit der dpa darauf hin, dass Putin sich zu strategischen Fragen kaum noch äußere. Linie des Kremls sei, auf keinen Fall in Alarmismus zu verfallen, um so Unruhe oder Panik in der Gesellschaft zu verhindern. „Deshalb ist es besser, zu schweigen“, sagte Stanowaja. Der Kreml kontrolliere nicht nur die Medien – und besitze damit die Deutungshoheit über Ereignisse wie die ukrainischen Angriffe.

Politologin erwartet keinen Kurswechsel von Putin

Putin setze auch weiter auf die „Geduld des russischen Volkes“, auf seine Unerschütterlichkeit und seinen Zusammenhalt. „Wie hart auch die ukrainischen Attacken ausfallen, Putin ist überzeugt, dass diese keine Unzufriedenheit mit dem Machtapparat provozieren können.“

Es sei naiv, einen Kurswechsel in Russland zu erwarten, sagte Stanowaja. „Putins Plan besteht darin, auf tiefe Veränderungen im Westen und in der Ukraine zu warten, die aus seiner Sicht nur eine Frage der Zeit sind.“ Die Angst vor der angekündigten ukrainischen Gegenoffensive trete da in den Hintergrund. Putin könne auch mit einzelnen örtlichen Niederlagen leben, sagt sie.

Im Bloomberg-Bericht heißt es weiter, da ein Ende der Kämpfe nicht abzusehen sei, wüssten russische Milliardäre und Beamte, dass sie möglicherweise jahrelang international isoliert seien und in eine immer größere Abhängigkeit vom Kreml gerieten, da Putin die Unternehmen zur Unterstützung des Kriegs dränge und den Menschen in seinem Umfeld verbiete, ihre Posten zu verlassen, so der Bericht.

Sie und ihre Familien wurden von den USA und Europa mit dem Einfrieren von Vermögenswerten und Reiseverboten belegt. Russlands Wirtschaft sei zu einer der am stärksten sanktionierten der Welt geworden, die jahrzehntelange Integration in die globalen Märkte sei zunichte gemacht.

„Die Beamten haben sich an die Situation angepasst, aber niemand sieht ein Licht am Ende des Tunnels - sie sind pessimistisch, was die Zukunft angeht“, sagt Alexandra Prokopenko, eine ehemalige russische Journalistin und Beraterin der Zentralbank, die jetzt als Wissenschaftlerin am Carnegie Russia Eurasia Center in Berlin tätig ist: „Das Beste, worauf sie hoffen, ist, dass Russland ohne Demütigung verliert.“

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