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Interview mit Christina Aus der Au: "Wo sind die Grenzen der offenen Gesellschaft?"

Kirchentagspräsidentin über die Nähe Gottes, den Umgang mit Populisten und Kritikern sowie den Einfluss von Barack Obama.

Frau Aus der Au, der Kirchentag wirbt mit orangefarbenen Plakaten mit zwei Augen drauf und dem Satz „Du siehst mich“. Wer sieht da wen?

Das ist ein Zitat aus der Bibel: Es geht um Hagar, die Magd von Sarah und Abraham. Sie ist von Abraham schwanger und flieht in die Wüste. „Du siehst mich“, sagt sie zu dem Engel, der dort zu ihr spricht. Hagar fühlt sich von Gott wahrgenommen, und das tut ihr gut. Weil Gott uns sieht, können wir von uns selbst absehen und müssen uns nicht permanent selbst bespiegeln. Man kann sich entspannen und hat Blick und Hände frei für die Nächsten.

Diese Botschaft könnte für die Berliner interessant sein – vorausgesetzt, sie wird überhaupt gehört. Wie will der Kirchentag die Menschen erreichen?

Mit Kreativität, ungewöhnlichen Orten und einem Programm, mit dem wir mit vielen unterschiedlichen Menschen zusammenkommen.

Den ungewöhnlichsten Ort, den ich im Programm gefunden habe, ist ein Gottesdienst in einer Hochhaussiedlung. Wo ist da die Kreativität?

Im Jugendzentrum entsteht eigens eine Gerüstkirche. Oder schauen Sie zum Beispiel auf das „Zentrum Kinder“: Das bringen wir auf dem Gelände der Stadtmission unter. Das klingt vielleicht auf den ersten Blick nicht ungewohnt. Aber ich war mit dem Kältebus der Stadtmission unterwegs. Da setzt man sich auseinander mit den Randständigen, mit den Geflüchteten, mit den Armen. Dass man Veranstaltungen für Kinder nicht an einem idyllischen Ort ansiedelt, fern jeder Not, halte ich durchaus für kreativ und eine Herausforderung. Und dass wir den Festgottesdienst mit hunderttausenden Menschen auf den Elbwiesen vor Wittenberg feiern wollen, das halten viele auch für kreativ und mutig.

Christina Aus der Au ist Präsidentin des 36. Deutschen Evangelischen Kirchentags.
Christina Aus der Au ist Präsidentin des 36. Deutschen Evangelischen Kirchentags.

© DEKT/Jens Schulze

Die Christen sind in Berlin in der Minderheit. Wie wollen Sie diejenigen ansprechen, die mit Glaube und Religion nichts anfangen?

Für diesen Kirchentag haben wir zwei Podiumsdiskussionen zusammen mit dem Humanistischen Verband organisiert, der sich als Vertretung von Atheisten und Säkularen versteht. Wir wollen über Sterbehilfe diskutieren und über die Grenzen der offenen Gesellschaft.

Wo verlaufen für Sie diese Grenzen?

Sie können nicht von einer einzelnen Person und auch nicht von einer Gruppe ein für allemal festgelegt werden. Die Grenzen der offenen Gesellschaft sind wandelbar und müssen immer wieder demokratisch ausgehandelt werden. Wichtig ist, dass sich in diesem Prozess alle einbringen und mitbestimmen können. Der Kirchentag versteht sich als Plattform, um unterschiedliche Menschen miteinander ins Gespräch zu bringen. Oder sagen wir so: Alle, denen das gute Zusammenleben wichtig ist und die sich in einem wertschätzenden und interessierten Rahmen auseinandersetzen.

Viele Atheisten, aber auch Christen fordern, dass Staat und Kirchen stärker getrennt werden, und kritisieren, dass es öffentliche Zuschüsse für Kirchentage gibt. Was entgegnen Sie ihnen?

Der Kirchentag ist nicht die Kirche. Er ist eine Laienbewegung, die sich vor fast 70 Jahren gegründet hat, weil Menschen ihr Engagement nicht an Pfarrer und Bischöfe delegieren wollten. Wir bekommen Geld von Stadt und Land, weil wir sehr viele engagierte und hoch motivierte Menschen zusammenbringen, die sich für die Gesellschaft einsetzen. Das ist ja keine Missionsveranstaltung, sondern es werden Themen angesprochen, die alle etwas angehen. Zum Beispiel das Thema Flüchtlinge.

Auf den Podien wird kontrovers diskutiert, auch mit der AfD

Werden Flüchtlinge auch selbst zu Wort kommen?

Na klar! Wir wollen uns direkt mit ihnen darüber austauschen, was sie erwarten und wie sie Projekte angehen würden, die ihnen helfen sollen. Im Rahmen der Podienreihe Flucht, Migration, Integration gibt es einen Begegnungsort, mit Möglichkeit auch zum persönlichen Austausch und Gespräch.

Kommen auch Kritiker der Willkommenskultur zu Wort?

Auf den Podien wird kontrovers diskutiert. Wir wollen niemanden auf eine Linie einschwören, sondern offene Auseinandersetzungen führen. Es gibt auch eine Veranstaltung, bei der Bischof Markus Dröge mit der Vorsitzenden der „Christen in der AfD“ diskutiert.

Geht das zusammen: Christsein und sich in der AfD engagieren?

Niemand kann einem anderen sein Christsein absprechen. Aber ich habe schon Zweifel daran, wie rassistische und menschenverachtende Positionen der AfD mit christlicher Überzeugung in Einklang zu bringen sind. Darüber müssen wir diskutieren. Deshalb ist es gut, dass diese Veranstaltung zustande kommt.

Die Begegnung von Bischof Dröge mit der AfD-Funktionärin findet im „Zentrum Weltanschauungen“ statt. Ist die AfD eine Sekte wie Scientology oder die Zeugen Jehovas?

Sie ist jedenfalls eine Weltanschauung. Jede politische Richtung hat eine Weltanschauung.

Auch die Debatten über die Frage, ob der Islam reformiert werden muss, oder über Rechtspopulismus finden in diesem Zentrum statt. Versteckt der Kirchentag die brisanten politischen Themen unter ferner liefen bei den Weltanschauungen?

Ich bin ja auch Philosophin, und für mich hat der Begriff Weltanschauung nicht das Image von „Sekte“ und peripher. Im Gegenteil: Ich verstehe unter Weltanschauung das, was zugrunde liegt und unsere Sichtweisen einfärbt. Auch das Christentum ist auf der erkenntnistheoretischen Ebene eine Weltanschauung, eben eine mit Gott.

Ellen Ueberschär, die Generalsekretärin des Kirchentags, sagte kürzlich, der Kirchentag werde „im Vorfeld der Bundestagswahl zeigen, wie stark die Kräfte des liberalen Protestantismus sind“. Protestanten sind aber nicht nur liberal. Es gibt auch fundamentalistische, homophobe und politisch reaktionäre Protestanten. Sind die auch eingeladen?

Ja, ich freue mich, wenn Menschen aller Positionen und Weltanschauungen kommen. Aber ich freue mich, wenn sie als gesprächsbereite und hörende Menschen kommen, wenn sie bereit sind, mit Andersdenkenden ins Gespräch zu kommen und als andere heimzukehren, als sie gekommen sind.

Wer auf seiner Sicht beharren will, wäre nicht willkommen?

Das wäre einfach schade und verschwendete Zeit – auch wenn es sich um einen liberalen Protestanten handelt. Der Kirchentag ist ein Ort des Austauschs, der einen herausfordert im Denken.

Kommen auch Gäste aus Afrika und Asien, wo der Protestantismus heute boomt?

Wir haben darauf geachtet, dass wir uns diesmal internationaler aufstellen. So wird es zum ersten Mal ein „Center Reformation und Transformation“ geben, wo wir mit Menschen aus Afrika, Asien und Nord- und Südamerika diskutieren. Auch Nadia Bolz-Weber ist dabei. Sie ist eine lutherische Pastorin aus den USA, stammt aus einem evangelikalen Elternhaus und hatte eine wilde Jugend mit Drogen und allem. Später hat sie eine eigene Gemeinde gegründet, in der vor allem queere Menschen zuhause sind. Damit ist sie ist sehr bekannt geworden, und auf einmal kamen auch ganz andere Leute in ihre Gemeinde, sozusagen die „Spießer“. In ihrer Autobiografie schreibt sie, dass sie da erstmal geschluckt habe und sich fragte, ob sie die überhaupt dabei haben wolle. Sie zeigt, dass man immer wieder über Gräben springen muss, denn wir sind alle Kinder von Gottes Gnade und sollten keine Linien ziehen, wer draußen ist und wer drinnen.

Können die Kirchen in Deutschland davon lernen?

Gerade in Zeiten schwindender Mitgliederzahlen und Finanzen sind wir herausgefordert, Kirche anders zu denken. Wir verengen uns unnötig, wenn wir meinen, es müsse so weitergehen, wie es immer schon war.

"Luther hätte nichts dagegen gehabt, im Kabarett mitzumachen"

Auch Barack Obama wird kommen. Was erwarten Sie von seinem Besuch?

Er ist einflussreich, er ist der Ex-Präsident, und er hat als US-Amerikaner einen anderen Hintergrund, was das Verhältnis von Kirche und Staat anbelangt. Ich bin gespannt, was er uns rät, wie wir Christen uns einbringen und die Zivilgesellschaft stärken können angesichts der Umbrüche in der Welt.

Er soll Mut machen?

Ja, und zwar konkret: Dass es wesentlich ist, sich für Demokratie einzusetzen und dafür, dass allen die gleiche Würde und die gleichen Rechte zukommen.

Soll er auch Glamour in den Kirchentag bringen, den die deutschen Spitzenpolitiker, die auch alle auftreten, vermissen lassen?

Für mich haben auch Angela Merkel und Frank-Walter Steinmeier Glamour.

Obama tritt zusammen mit Angela Merkel auf. Ist das Wahlkampfhilfe?

Das ist der Amtsbonus. Merkel ist eben die Kanzlerin. Die Einladung war ein Zusammenspiel von EKD, Kirchentag und Kanzleramt. Aber was heißt Amtsbonus? Man könnte es auch andersrum sehen: Obama stiehlt Merkel die Show. Sie wäre sonst alleine aufgetreten.

Der Kirchentag findet statt im Jahr des 500. Reformationsjubiläums. Doch Martin Luther kommt auf dem Kirchentag vor allem als Kabarett vor. Ist Luther eine Witzfigur?

Ich glaube, Luther hätte nichts dagegen gehabt, im Kabarett mitzumachen. Er hätte sich vermutlich kaputt gelacht. Aber im Ernst: Es geht um die Weite und Tiefe der Reformation. Da ist es ein gutes Zeichen, wenn bei den Veranstaltungen nicht überall Luther draufsteht. Die Reformation hatte mehr Väter und Mütter als Luther und hat eine internationale Ausprägung, auch wenn Wittenberg ein Fixpunkt ist.

In Berlin spielt auch der Islam eine Rolle. Spiegelt sich das auf dem Kirchentag wider?

Etliche Moscheen öffnen ihre Türen und laden zum Mittagessen ein, um ins Gespräch zu kommen. Der interreligiöse Dialog ist auf allen Kirchentagen wichtig. Wir richten auch ein „Zentrum Muslime und Christen“ ein.

Es gibt auch ein „Zentrum Juden und Christen“. Können die drei abrahamitischen Religionen nicht ein gemeinsames Zentrum bespielen?

Könnten wir, aber das wäre auch schade. Denn bestimmte Themen können spannender diskutiert werden, wenn man nicht immer den kleinsten gemeinsamen Nenner sucht. Aber es gibt auch einzelne Veranstaltungen zusammen. Zum Beispiel wollen sich Musliminnen, Christinnen und Jüdinnen fragen, wie man gemeinsam gegen fundamentalistische Strömungen in den Religionen vorgehen kann.

Sie haben mit anderen Europäern 2016 einen Verein gegründet, der einen europäischen Kirchentag organisieren möchte. Wann ist es so weit?

Einen europäischen Kirchentag wird es wohl erst in den 2020er Jahren geben. Es soll ja kein Kirchentag „für“ Europa sein, sondern zusammen mit vielen Europäern. Es ist nicht so einfach, überall in den Ländern zivilgesellschaftliche Partner zu suchen. Aber das Interesse steigt, da mehr und mehr Menschen der Krise Europas nicht tatenlos zusehen wollen.

Was wollen Sie mit einem europäischen Kirchentag erreichen?

Die europäische Zivilgesellschaft stärken und dazu beitragen, Europa eine Seele zu geben.

Christina Aus der Au, Theologin und Philosophin, ist Präsidentin des 36. Deutschen Evangelischen Kirchentags und Geschäftsführerin des Zentrums für Kirchenentwicklung der Universität Zürich. Das Gespräch führte Claudia Keller.

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