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Hochherrschaftlich: Das Treppenhaus des Hôtel Solvay, 1895-98 von Victor Horta erbaut.

© Sophie Voituron

„Festival Art Nouveau & Art Déco“ in Brüssel: Auf den Spuren des Jugendstils

Ein Festival im März erlaubt Einblicke in Brüssels zahlreiche Bauten aus Jugendstil und Art Déco: Eine Architektur, die mehr als nur dekorativ ist.

Ganz Europa stand um 1900 im Zeichen des Jugendstils, der in Deutschland nach der diesen Stil propagierenden Zeitschrift „Jugend“ benannt wurde. Im französischen Sprachgebiet heißt er Art Nouveau und in anderen Sprachen und Ländern wieder anders. Der Vielzahl der Namen entspricht die Vielfalt der stilistischen Eigenheiten. Allumfassende Stilmerkmale lassen sich nicht benennen, denn auch die organischen und floralen Formen, die gewöhnlich dem Jugendstil zugerechnet werden, sind beispielsweise im österreichischen „Secessions“-Stil verpönt: Da herrscht die strenge Geometrie eines Josef Hoffmann, mit Wiener Schmäh genannt „Quadratl-Hoffmann“ .

Ausgerechnet in Brüssel, der Bastion des überragenden belgischen Jugendstil-Meisters Victor Horta, konnte Hoffmann mit den Wiener Werkstätten bis 1911 das Gesamtkunstwerk des Palais Stoclet errichten. Schulbildend wirkte es nicht, wenngleich ausgerechnet von diesem kalkulierten Fremdkörper im Brüsseler organischen Jugendstil-Gewoge ein wesentlicher Impuls in Richtung des drei Jahrzehnte später in Frankreich dominierenden Art Déco ausging.

In Brüssel wiederum fasste Art Déco, benannt nach der Pariser „Exposition des Art Décoratifs“ von 1925, ebenfalls Fuß. Die grandiose Villa Empain von 1930 prunkt mit hallengroßen Räumen in edelsten Materialien, viel Marmor unterschiedlichster Färbung und Hölzern aus den Tropen; dazu im Garten ein Swimmingpool, in dem eine ganze Abendgesellschaft hätte planschen können.

Soziale Verpflichtung der Architektur

Manche dieser Querverbindungen lassen sich aufspüren, wenn im März erneut das Brüsseler „Festival Art Nouveau & Art Déco“ (BANAD) stattfindet, das an drei Wochenenden 42 Führungen durch die Stadt bietet, einschließlich der unabhängigen Gemeinden, die um das eigentliche Brüssel herum gelegen sind. Vor allem gewähren diese Führungen Zutritt zu insgesamt 57 Bauten, darunter etlichen im Alltag unzugänglichen Privathäusern – allerdings nicht zum Palais Stoclet, das sich bis heute im Besitz der Familie des Bauherren befindet und nur von außen in seinen klaren Linien zu bestaunen ist.

Gebäude von Victor Horta (1861-1947) und seinen Mitstreitern hingegen öffnen sich. Es ist das Innere, das den größten, den eigentlichen Reichtum einer Gestaltung zeigt, die Horta keineswegs als dekorative Zutat, sondern als funktional und auf die Bedürfnisse der Bewohner abgestimmt empfand. Ein eindrucksvolles Beispiel ist das Hôtel Solvay; „Hôtel“ im französischen Sinne, weil es das repräsentative Stadthaus eines vermögenden Herrn darstellt, ausgerichtet auf gesellschaftliche Verpflichtungen.

Die Villa Empain des belgischen Architekten Michel Polak kann ebenfalls während des Festivals besichtigt werden.
Die Villa Empain des belgischen Architekten Michel Polak kann ebenfalls während des Festivals besichtigt werden.

© Sophie Voituron

Horta, der zu Anfang seiner Berufslaufbahn ausschließlich öffentliche Aufträge annehmen wollte und sich erst allmählich zum Lieblingsarchitekten eines überaus zahlungskräftigen Großbürgertums machen ließ, neben den Aufträgen der Großbourgeoisie niemals die soziale Verpflichtung der Architektur vergaß, dachte auch beim Solvay-Haus an die Bediensteten: So stattete er die Kutschdurchfahrt mit Öfen aus, damit die Kutscher sich während ihrer Wartezeiten aufwärmen konnten.

Entwürfe, die das Leben leichter und angenehmer machen

Was immer Horta entwarf, es sollte das Leben leichter und angenehmer machen. Er verstand sich darin ganz als moderner Architekt. Bei seinen Lehrjahren in Paris hatte er den Gebrauch von Gusseisen und Glas kennengelernt, bald auch Stahl. All das erzeugte auch die hoch entwickelte belgische Industrie. Horta führte diese Materialien demonstrativ vor, nicht nur in den Fassaden, sondern auch im Inneren, gern in Gestalt genieteter Deckenbalken oder dünner Eisensäulen. Glas ermöglichte ihm, der am Bau der königlichen Gewächshäuser beteiligt war, üppige Oberlichter, sodass etwa im Hôtel Solvay Tageslicht das Treppenhaus erhellt, fein gefiltert durch farbiges Glas.

Ähnlich funktionsbezogene Details zeigt das Wohn- und Atelierhaus des Architekten, das heute das Horta-Museum beherbergt. Im Souterrain des Ateliertraktes formten Modelleure nach den Zeichnungen, die der Meister im obersten Geschoss unter einer geknickten Glaswand entwarf, Moulagen aus Harz, nach denen wiederum die metallenen Gitter und Geländer gefertigt wurden, die Horta umstandslos neben Türen und Möbel aus edlen Hölzern setzte. An seinem Atelierhaus überdeckt ein Metallgeländer das über zwei Geschosse in die Tiefe reichende Fenster, das eben auch dem Souterrain genügend Licht verschafft.

Anregungen der englischen Arts & Crafts-Bewegung

Von Hortas Bauten sind einige der wichtigsten im Vandalismus der 1960er Jahre abgerissen worden, unter anderem das „Volkshaus“ (Maison du peuple), das dem Architekten so wichtig war. Aber es gibt etliche Privat- und Kontorhäuser, die sich in die Wand an Wand bebauten Straßen einfügen. Andere Architekten kombinierten den Jugendstil mit dem älteren Historismus oder griffen Anregungen der englischen Arts & Crafts-Bewegung auf. So gibt es in Brüssel wunderliche Mischungen wie das von Paul Hamesse zwischen 1906 und 1911 erbaute Hôtel Cohn-Donvay, dessen vollständig erhaltenen Gesellschaftsräume heute ein Restaurant beherbergen. Im Garten, der zu einem eigenen Musikpavillon für die Tochter des Hauses führt, sind Teile eines Eisenbahnwagens aufgebaut: Er stammt, zusammen mit den spartanischen, aber wohlgeformten Holzbänken der damaligen „3. Klasse“, von Henry van de Velde.

Van de Velde weist beinahe dieselben Lebensdaten wie Horta auf. Der schmähte ihn als „Teppichhändler“ und weigerte sich, den Autodidakten als ebenbürtigen Architekten anzuerkennen. In Brüssel ist van de Velde nicht so präsent, dafür umso mehr in Deutschland, in Weimar zumal, wo er die später vom neu gegründeten Bauhaus genutzten Bauten der Großherzoglichen Kunstschule entwarf. Und in Berlin – wo aber von seinen Inneneinrichtungen nichts erhalten blieb.

Um den Jugendstil und den auf ihm fußenden Art Déco zu studieren, bieten sich die Führungen des Brüsseler Banad-Festivals geradezu an: Es gibt sie auch in deutscher Sprache. Eine Epoche ist zu besichtigen.

Die Recherche wurde unterstützt von der Brüsseler Tourismusagentur visit.brussels und dem internationalen Hochgeschwindigkeitszug Thalys. – Festival an den Wochenenden vom 14. bis 29. März. Informationen in deutscher Sprache sowie alle Tickets auf www.banad.brussels/de

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