zum Hauptinhalt

Fremde Heimat: Jüdische Emigranten: Zu Hause im Exil

Sie sind die letzten, denn das Programm des Senats endet: Jüdische Exilanten besuchen die Häuser ihrer Berliner Kindheit.

Ein blonder Junge in kurzen Hosen und Riemchenschuhen sitzt auf der obersten Stufe vor der Eingangstür. Aus einer großen Schüssel füttert der Sechsjährige seine kleine Schwester fürsorglich mit einem Löffel. Auf den Treppen in der Hanne-Nüte-Straße in Britz saßen die beiden Geschwister oft. Vor kurzem kehrte Hellmut Juretschke aus den USA ins Haus seiner Berliner Kindheit zurück – mit dem alten Schwarz-Weiß-Foto in der Hand. Auf denselben Treppen ließ der emeritierte Physikprofessor sich jetzt, 80 Jahre später, nochmal fotografieren, diesmal mit seiner Tochter Suzie.

„Ja, that’s it, das ist genau das Haus, wo ich gewohnt habe. Definitely, unbedingt.“ Ilse Treister steht vor dem großbürgerlichen Altbau im Bayerischen Viertel, in dem sie mit ihrer Familie bis 1936 wohnte. Ihre Erinnerungen an diese Gegend sind nur noch vage, aber den Eingang erkennt sie sofort. Die 86-jährige New Yorkerin und ihr Mann gehen durch den marmorverkleideten Durchgang mit den hohen Spiegeln in den Innenhof. Als sie an dem Gartenhaus hochblickt, kommt ihr plötzlich das Bild einer Rauchwolke über dem Dach in den Sinn. Ein Brand, der sie als junges Mädchen sehr erschreckte.

Edith Hillinger steht vor einem Zaun an der Rückseite des Mehrfamilienhauses in Zehlendorf. Die 77-jährige Kalifornierin blickt über die schmale Wiese zum Balkon im Erdgeschoss. „Da hatte ich Haustiere, Kanarienvögel, Katzen, Hunde. Und eine Schildkröte. Für sie machte Mutter immer hartgekochte Eier.“ Hillinger wollte lange nicht in ihre Geburtsstadt zurückkehren, zu schrecklich waren die Erinnerungen an die Schicksalsschläge, die die bis dahin glückliche Familie unter den Nationalsozialisten erlitt. Jetzt ist sie gekommen.

Edith Hillinger, Ilse Treister und Hellmut Juretschke gehören zu den letzten Überlebenden der Judenverfolgung. Erst jetzt, aber solange sie dazu noch in der Lage sind, nahmen sie die Einladung der Stadt an, ihr ehemaliges Zuhause zu besuchen, sich als Zeitzeugen befragen zu lassen. Sie sind die allerletzten: Am 31. Dezember endet das „Emigrantenprogramm“ des Senats, in dessen Rahmen seit 1969 über 17 000 ehemalige Berliner eine Woche an der Spree verbrachten.

„Zwei Worte umrahmen meine Kindheit in Berlin“, schreibt Hellmut Juretschke in seiner unveröffentlichten Autobiografie: „Sonnenfreunde“ und „Immergrün“. Der stattliche Mann mit der weißen Mähne erinnert sich im Gespräch an eine Atmosphäre warmer Freundschaft unter sonnigem Himmel im Grünen. Seine Eltern waren beide aktive Wandervögel, unternahmen mit den Naturfreunden viele Ausflüge. Kennengelernt hatten die beiden sich in der Volkshochschule „Immergrün“, die von einem Lehrer ehrenamtlich geführt wurde und in turbulenten Zeiten Antworten zu Fragen der Ethik und sozialen Verantwortung bot. 1926 zog das Ehepaar aus dem überfüllten Stadtzentrum in die damals neu gebaute moderne Hufeisensiedlung in Britz, mit viel frischer Luft und Sonne. „Wir hatten Fenster vorne und nach hinten, so dass die Wohnung zu allen Zeiten sonnenüberflutet war“, erinnert sich der 86-Jährige. „Kurz nach dem Einzug begannen der vordere und vor allem der hintere Garten dank ihrer harten Arbeit zu blühen.“

Jetzt klopfen die Juretschkes an die Tür der heutigen Bewohner, der Familie Gagel, die sie herzlich empfängt. „Der Garten war viel kleiner, als ich ihn in Erinnerung hatte, aber voller Blumen, und da stand der Apfelbaum, den mein Vater gepflanzt hatte. Er war wieder da!“ Juretschke erlebt das 69 Quadratmeter große zweistöckige Haus, das sie zu viert bewohnten, als großzügig, gehoben und modern. Bei seinem kurzen Besuch kommen Juretschke Erinnerungen an den „gigantischen“ Mahagoni-Schrank hoch, der vollgepackt war mit Spielzeug und Büchern über Kunst, Literatur, Philosophie und Wissenschaft. „Eine Fundgrube für Zeiten schlechten Wetters.“ Die Vertreibung aus dem Britzer Paradies folgte 1933: Juretschke und seine Schwester wurden mit Beschimpfungen von der Straße verjagt, die Familie musste die der SA zugewiesene Siedlung unter Drohungen räumen. „Ich war als Neunjähriger bestürzt, aus meinem so bequemen und freundlichen Milieu herausgerissen zu werden. In Tempelhof war mein Cousin mein einziger enger Freund.“ Im März 1939 wurde ihr letzter Mietvertrag gekündigt: Einige Nachbarn weigerten sich, dieselben Treppen wie Juden zu benutzen. Im gleichen Monat wanderten die Juretschkes aus. „Ich habe später auf der ganzen Welt gelebt, aber Britz blieb immer mein Kinderparadies.“ Es hat ihn gefreut, dass er so viele Orte seiner Erinnerung noch wiederfand – auch wenn ihm alles viel kleiner vorkam.

In der Salzburger Straße erinnert sich die elegante, zierliche Ilse Treister, dass die Wohnung einen Balkon hatte. Deshalb kann es nur der rechte Seitenflügel sein! Aufgeregt steht die 86-Jährige im engen Treppenhaus, als ihr Begleiter die Klingel drückt. Der junge Bewohner Jens Breder ist zu Hause, bittet den Überraschungsbesuch herein. Am Ende des engen Flurs führt eine Tür in die Küche, die zum Wohnzimmer hin offen ist. „Es sieht alles anders aus“, sagt Ilse Treister. Die großen, schweren Wohnzimmermöbel hätten in diesem kleinen Zimmer keinen Platz gehabt. Wie viele Berliner Gründerzeitwohnungen wurde auch diese nach dem Krieg aufgeteilt. Die alte Dame geht hinaus auf den Balkon, kann kaum glauben, dass sie dort an sonnigen Wochenenden zu viert gefrühstückt haben.

„Das Wohnzimmer war verbunden mit dem Speisezimmer“, erzählt Treister, „in dem stand ein großer Tisch, wir hatten oft Gesellschaft.“ In der Küche habe sie nie geholfen, erzählt die alte Dame lachend. Dafür schickte ihre Mutter sie gelegentlich in die Konditorei Schlenkrich im selben Haus, mit einer Schale für Schlagsahne. Kuchen hat die Mutter selbst gebacken. Viel Zeit verbrachte sie im Stadtpark, dem heutigen Volkspark, und ging in die Schwimmhalle in der Hauptstraße, einmal auch mit der Klasse, nachdem dies für Juden verboten wurde.

Im April 1939 reiste Treister mit ihrer Mutter nach Hamburg, „erleichtert, Deutschland zu verlassen, aber verängstigt, in ein fremdes Land zu gehen, dessen Sprache ich nicht konnte“. An Hitlers Geburtstag kamen sie in London an. Über ihr altes Zuhause hat Treister nicht mehr nachgedacht, nur die Erinnerungen an die Inhaftierung ihres Bruders im KZ Buchenwald ließen sie nicht los. „Daher wollte ich bis vor kurzem nicht zurück.“ Heute ist sie froh, dass sie mit ihrem Mann Norbert nach Berlin kam. „Die Bemühungen hier, die Nazi-Zeit niemals zu vergessen, haben mich sehr beeindruckt.“

In Zehlendorf, anderthalb Stunden nach ihrem ersten Besuch, kommt Edith Hillinger zu ihrer früheren Wohnung zurück. Das war mit der Bewohnerin so abgemacht. Hillingers Vater, der Architekt Franz Hillinger, hat sie zusammen mit Bruno Taut als Teil der Waldsiedlung „Onkel Toms Hütte“ gebaut. Auch die Schlafzimmermöbel hat der Vater selbst entworfen: das lindgrün lackierte Doppelbett im schlichten Bauhausstil; das Sofa mit burgunderrotem Stoffbezug und dazugehöriger Stehlampe aus Chrom. Die Sitzgarnitur im Wohnzimmer, die breite Ottomane mit einem großen Kissen, die zwei Buchschränke, deren Glasschiebetüren auf Stahlkugeln rollten. Sie weiß es noch genau, obwohl sie bei der Flucht aus Deutschland erst vier Jahre alt war. Aber die Eltern nahmen die Möbel mit ins türkische Exil.

Während Edith Hillinger erzählt, wartet sie darauf, dass die Tür sich endlich öffnet. Sie ist erschöpft, hat es kaum bis zum Hauseingang geschafft. Als Kleinkind hatte sie Kinderlähmung, sie hinkt, braucht beim Gehen einen Stock. Ihre Berliner Begleiterin klingelt wieder, zweimal, dreimal – vergeblich. Die Rollläden an den Fenstern sind heruntergelassen.

Dennoch ist Edith Hillinger glücklich, das Haus, die Siedlung, die ihr Vater gebaut hat, noch einmal gesehen zu haben. „Ohne Bruno Taut könnte ich aber heute nicht mit Ihnen sprechen“, sagt die Künstlerin. Taut hatte Deutschland verlassen, kurz nachdem Hitler an die Macht kam. 1936 holte er Franz Hillinger zu sich nach Ankara, ein Jahr später folgten auch Edith mit Mutter und Bruder. 1948 wanderten die Hillingers in die Vereinigten Staaten aus. Ja, sie habe lange gezögert, zu kommen. Aber nun füge sich vieles für sie zusammen. Der Besuch hat andere Türen geöffnet: Zusammen mit dem Jüdischen Museum plant sie eine Ausstellung über ihre und ihres Vaters Arbeiten.

Igal Avidan, Irmgard Berner

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false