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Margarete Mitscherlich

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Margarete Mitscherlich: Das linke Gewissen

Alle drei stehen für die einflussreiche Rolle der Psychoanalyse in der deutschen Öffentlichkeit: Margarete und Alexander Mitscherlich ("Die Unfähigkeit zu trauern") sowie Horst-Eberhard Richter ("Patient Familie"). Sie halfen der 68er-Generation bei der Auseinandersetzung mit ihren Eltern und begleiteten die politischen Bewegungen der letzten Jahrzehnte.

Am 28. Juni wird Margarete Mitscherlich auf dem Hauptfriedhof von Frankfurt amMain beerdigt. Mit dem Tod der Psychoanalytikerin am vergangenen Dienstag ist eine Ära zu Ende gegangen, in der die Psychoanalyse in der deutschen Öffentlichkeit eine einflussreiche Stimme hatte. Vor allem drei Protagonisten prägten diese Ära: neben Margarete Mitscherlich, geboren 1917, ihr Mann Alexander Mitscherlich (1908 – 1982) und Horst-Eberhard Richter (1923 – 2011). Sie alle waren charismatische Persönlichkeiten, die eindringliche psychoanalytische Interpretationen derart zu formulieren wussten, dass sie Debatten anstießen oder kritisch begleiteten. So hatten Alexander Mitscherlichs Buch „Auf dem Weg zur vaterlosen Gesellschaft“ (1963) und vor allem das von den Mitscherlichs gemeinsam verfasste Werk „Die Unfähigkeit zu trauern“ von 1967 einen außergewöhnlichen Einfluss auf die psychosoziale Selbstverortung der Nachkriegsgesellschaft.

Es gibt nur wenige psychologische Fachbücher, denen es vergönnt ist, sich über Jahrzehnte hinweg derart beständig in der öffentlichen Diskussion zu behaupten: Noch heute ist der Begriff der „Trauerarbeit“ unerlässlich in der Debatte über die NS-Zeit. Die Mitscherlichs, die in einer psychosomatischen Klinik in Heidelberg und später am Frankfurter SigmundFreud-Institut arbeiteten, nutzten die emotional aufgeladene Proteststimmung der 68er-Generation, um ihren gesellschaftskritischen Vorstellungen einen Resonanzraum zu geben. Umgekehrt fanden die 68er in der „Unfähigkeit zu trauern“ Argumente für die Auseinandersetzung mit der Elterngeneration, die noch mit der Nazizeit verstrickt war.

Horst-Eberhard Richter war kein Anhänger der antiautoritären Studentenbewegung, sondern ein Sympathisant der sanfteren Initiativ-, Alternativ- und Ökologiebewegung. Er griff die Aufbruchstimmung der 70er Jahre auf, reflektierte aber auch die inneren Brüche, die überzogenen Ansprüche, die die Aktivisten an sich und an andere stellten, und verhalf ihnen so zu realistischeren politischen Konzepten. Bücher wie „Patient Familie“ (1970), „Die Gruppe“ (1972), „Lernziel Solidarität“ (1974) oder „Flüchten oder Standhalten“ (1976) waren Ausdruck des geistig-kulturellen Klimas der 70er Jahre und boten Reflexionen an, um die Zeitenwende besser verstehen zu können.

In den Achtzigern knüpfte Richter an die Mitscherlich-Thesen an, als er unter dem Motto „Erinnern hilft vorbeugen“ die Aufarbeitung der NS-Zeit mit dem Kampf gegen das Wettrüsten verband. Die Erinnerung an die deutschen Verbrechen stellte für ihn die wichtigste Voraussetzung dar, um den Willen zur Abrüstung glaubhaft vertreten zu können. Umgekehrt führte ihn sein Engagement für die Abschaffung der Atomwaffen zur Konfrontation mit der NS-Zeit. Dank der Funktion der drei als Vermittler, Botschafter, Interpret und kritischer Begleiter der neuen sozialen Bewegungen – wie der Frauen-, der Ökologie- und der Friedensbewegung – trugen sie maßgeblich dazu bei, dass all diese Initiativen keine Einzelerscheinungen blieben, sondern zu Vorläufern einer Bewusstseinsveränderung in der Bundesrepublik wurden. Der jetzige Ausstieg aus der Atomenergie ist ohne diese Vorläufer nicht denkbar. Ähnlich wie die Mitscherlichs wurde Richter zu einer Art öffentlichmoralischer Instanz – was andere Psychoanalytiker eher gering schätzten oder anfeindeten. Margarete Mitscherlich mischte sich unter anderem mit ihrem Buch „Die friedfertige Frau“ (1985) in die feministische Diskussion ein, brachte mit großer Lust an der Provokation psychoanalytische Argumente vor (etwa das von der nur „angelernten“ weiblichen Friedfertigkeit) und warb mit ihrer direkten Art für die Sache der Frauenbewegung.

Psychoanalytische Metaphern wie die von der „Vaterlosen Gesellschaft“, der „Unfähigkeit zu trauern“ oder von Richters „Gotteskomplex“ (1979) sind als „Zeitdiagnosen“ kritisiert worden. Diese Kritik verfehlt jedoch das Anliegen der Mitscherlichs und Richters, denn es ging ihren psychoanalytisch fundierten Argumenten nicht um eine objektive diagnostische Einordnung gesellschaftlicher Probleme. Vielmehr bemühten sie sich um deren tieferes Verständnis, das den Prozess der Verständigung und Selbsterkenntnis vorantreiben sollte. Nicht wissenschaftliche Diagnose war ihr Ziel, sondern Bewusstwerdung und Veränderung mit Hilfe psychoanalytischer Selbstreflexion.

Die Ära der charismatischen Psychoanalytiker, die mit ihren Stichworten zur geistigen Situation der Zeit und zur psychosozialen Befindlichkeit der Gegenwartsgesellschaft bei einem breiten Publikum Gehör fanden, scheint aus zwei Gründen der Vergangenheit anzugehören: Zum einen existiert momentan keine emanzipatorische soziale Bewegung, die für eine psychoanalytisch angeleitete Selbstreflexion offen wäre. In einem ihrer letzten Interviews, nachzulesen im „Philosophie Magazin (www.philomag.de), begrüßte die 94-jährige Margarete Mitscherlich zwar grundsätzlich die beruhigende Rationalität von Kanzlerin Angela Merkel, vermisste aber Visionen: „Es ist in diesem neuen Kapitalismus keine neue Idee drin, scheint mir. Auch nicht auf europäischer Ebene. Wir brauchen dringend eine vereinende Vision, die Veränderungen zulassen würde, nicht nur eine Diskussion über den Euro.“

Zum anderen ist die Wissenschaft der Psychoanalyse spätestens seit der Verabschiedung des Psychotherapeutengesetzes 1999 von der euphorischen Gründungsphase ins Stadium der Normalwissenschaft eingetreten. Die tägliche Kärrnerarbeit in der Praxis oder der empirischen Forschung bestimmt den Alltag der Psychoanalytiker. Gleichwohl wird das emanzipatorische Potential der Psychoanalyse gewiss auch für das Verständnis künftiger sozialer und politischer Prozesse von Nutzen sein.

Hans-Jürgen Wirth lehrt Sozialpsychologie an der Uni Frankfurt/M. und war Mitarbeiter von Horst-Eberhard Richter.

Hans-Jürgen Wirth

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