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Die Lyrikerin und Schriftstellerin Silke Scheuermann.

© Alexander Paul Englert/Schöffling

Roman "Wovon wir lebten": Kaninchen in Biersauce

Silke Scheuermann erzählt in ihrem Roman "Wovon wir lebten" von einem Fernsehkoch, der kriminell wird.

Großmutter Seligenstädters Klosterkochbuch, das sich im Nachlass der Mutter findet, bringt die Wende. Auf einmal ist der Geschmack der Kindheit wieder präsent: Kasseler im Brotteig, Rotaugen im Speckmantel oder Pfirsichhälften mit Rosmarineis, das Lieblingsdessert des Ich-Erzählers Marten: „Auch wenn sie es Vater nie recht machen konnte. In ihren guten Zeiten war Mutter eine fantastische Köchin.“

Und so darf man ab dem Zeitpunkt des Auffindens dieses Kochbuches – er findet auf Seite 225 von Silke Scheuermanns Roman „Wovon wir lebten“ statt – die schrittweise, manchmal märchenhafte Entwicklung Martens von einer soziopathisch anmutenden Persönlichkeit hin zu einem gefeierten Star-und Fernsehkoch miterleben. Es ist die Geschichte der Befreiung aus den Zwängen einer kleinbürgerlichen Kindheit, ein Paradestück über die Überwindung der familiären Prägung.

Denn außer einigen kulinarischen Erlebnissen gibt es aus jener Zeit nichts, woran Marten sich gerne erinnern würde: Da sind eine alkoholsüchtige Mutter, ein krankhaft autoritärer Vater, eine kleine, von allen verhätschelte Schwester. Verzweiflung und Ohnmachtsgefühle bringen den im ersten Teil des Buches knapp zwölfjährigen Jungen dazu, ein Kaninchen seiner Schwester genussvoll umzubringen: „Das Töten gibt mir einen Kick, der noch besser ist als das Schnüffeln. Ein Gefühl von unglaublicher, überwältigender Macht durchströmt mich.“

Niemand ahnt etwas von seinem Doppelleben

Marten kann sein Leben nur mit einem Schutzpanzer gegenüber der Außenwelt ertragen. Dazu gehören Kälte und Egozentrik, darüber hinaus fehlt ihm jegliches Schuld- und Unrechtsbewusstsein. Um zu Geld zu gelangen, wird der Zwölfjährige zum Drogenkurier. Niemand ahnt etwas von seinem Doppelleben, doch das Abrutschen in die Kriminalität ist damit programmiert. Dass Gewalt keine Lösung ist, hat der erwachsene und mittlerweile drogensüchtige Marten noch mühsam zu lernen. Erst schlägt er einen Konkurrenten krankenhausreif, später verprügelt er auch seinen Vorarbeiter. Marten, inzwischen zum Schlosser ausgebildet, muss eine Therapie antreten, Dort wird ihm „mangelnde Impulskontrolle“ bescheinigt. Auch an seinem Frauenbild muss dringend gearbeitet werden: Bis zum großen Umschwung sind sie für ihn bloße Sexualobjekte für das Ausleben lang verborgener Fantasien.

„Wovon wir lebten“ ist der vierte Roman der als Lyrikerin vielfach ausgezeichneten Silke Scheuermann. Er ist in epischer Breite angelegt, was manchmal ein wenig langatmig wirkt. Schade, denn die Erfindung ihrer Hauptfigur scheint ihr mühelos von der Hand gegangen zu sein: Die Perspektive ist stets stimmig und authentisch. Man kann ihren Mut zur Wahl eines solchen Protagonisten bewundern – ebenso wie ihr Einfühlungsvermögen in solcherart männliches Denken.

Am Ende spielt die Autorin mit diesem Wagnis und kommentiert es mit Selbstironie. Jenna, eine frühere Freundin Martens, ist mittlerweile Schriftstellerin geworden. Im Mittelpunkt ihres ersten Romans steht: „Eine männliche Hauptfigur mit gewalttätigem Charakter“.

Pfeffer-Tunfisch auf Glasnudel-Krautsalat

Scheuermann versteht sich darauf, anschaulich und präzise ganz verschiedene Welten zu schildern: vom Drogenmilieu über die industrielle Arbeitswelt bis hin zur Koch- und Kunstszene, deren Hauptprotagonistin Martens Jugendliebe Stella ist. Im Hinterkopf hatte die Autorin Charles Dickens’ „Great Expectations“ – einen „Entwicklungsroman“, wie er auch ihr vorschwebte.

Die selbstkritische Reflexion, die eigentlich zu diesem Genre gehört, ist allerdings nicht Martens Stärke. Er wirkt oft eher verblüfft über die allmähliche Veränderung seiner Persönlichkeit und erkennt: „Manchmal stehe ich in der Küche und denke, dass ich gar nicht weiß, wie sich ein normaler Mensch benimmt. Natürlich kenne ich die Regeln für draußen, ich meine außerhalb der Küche. Ich halte sie auch ein. Aber ich komme mir immer vor wie ein Betrüger.“

Und während die Helden klassischer Entwicklungs- und Bildungsromane ihre Persönlichkeit einst durch den Besuch antiker Stätten vervollkommneten, übt Marten die radikale Neuerfindung seines Charakters durch das Ausprobieren neuer Gerichte: etwa Pfeffer-Tunfisch auf Glasnudel-Krautsalat oder Jacobsmuscheln mit Orangen-Chili-Butter.Ganz zu schweigen von der fantastischen Seeteufel-Lasagne.

Am Ende taucht wieder ein totes Kaninchen auf, das dieses Mal allerdings nicht vom Ich-Erzähler gemeuchelt wurde. Es landet, nach einem belgischen Rezept gekocht und in Biersauce veredelt, als Festessen in Martens Bratröhre.

Silke Scheuermann: Wovon wir lebten. Roman. Schöffling & Co, Frankfurt am Main. 528 Seiten, 24 €.

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