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Kultur: 1. Denken ohne Dach 3.

Wie sie in den Wahlkampf gehen: sechs Intellektuelle über die Kunst, sich einzumischen

1. DEUTSCHLANDS INTELLEKTUELLE SCHWEIGEN ODER TRETEN NUR ALS MULTIPLIKATOREN VON POLITIKERTHESEN AUF. WAS SAGEN SIE ZU DIESER KRITIK? 2. SOLLTEN SICH KÜNSTLER UND AUTOREN IM WAHLKAMPF WIEDER MASSGEBLICH AM ÖFFENTLICHEN DISKURS BETEILIGEN? 3. ABSCHIED VON ROT-GRÜN: LÄSST SICH EIN MÖGLICHER REGIERUNGSWECHSEL ÜBERHAUPT ALS POLI- TISCHE ALTERNATIVE BESCHREIBEN?

F.C. Delius. Diese Kritik kommt von Leuten, die nicht (genug) lesen oder hören. Die Fragen, die derzeit in den Zeitungen kommentiert werden, oder die Probleme, die Müntefering schlecht mit Schlagworten benennt, sind ja nicht neu. Zum Beispiel muss ich nicht wiederholen, was in meinen Büchern oder auf www.fcdelius.de/widerreden zu lesen ist.

Walter Jens. Ich halte das Verdikt vom schweigenden Intellektuellen für überzogen. Es gibt viele interessante Stellungnahmen zum politischen Tagesgeschäft. Man muss nur genauer lesen und hinschauen. In der Stille wird mehr gedacht, geschrieben und formuliert, als man gemeinhin glaubt. Dass sich eher die Älteren äußern, hat damit zu tun, dass wir von der Geschichte gebrannte Kinder sind. Bei den Jüngeren hat sich die Spaßgesellschaft ins Halblinke hineingefressen, das ist bei uns anders.

Paul Nolte. Schweigen – wozu? Es hängt sehr vom Thema ab. In der Tat beobachte ich eine große Zurückhaltung vor allem Jüngerer, sich in innen- und gesellschaftspolitischen Debatten zu positionieren. Ein Grund vielleicht: Früher schien eindeutiger, was gut und böse, was intellektuell korrekt ist und was nicht. Jetzt machen Politiker die Moral („Heuschrecken!“) – und die Intellektuellen sollen den Kapitalismus verteidigen?

Peter Rühmkorf. Schweigt Grass? Schweigt Staeck? Schweigt Jens? Schweigen Gert Heidenreich, Carola Stern, F. C. Delius, Uwe Timm, Oskar Negt, Peter Schneider, Christoph Hein, Daniela Dahn? Was schweigt, ist allenfalls die nächste Generation, die offensichtlich keine politische Sozialisation genossen hat. Sie sollte getrost bei Heuschrecken-Sätzen in die Schule gehen, die zugleich metaphorische Quantensprünge bedeuten.

Peter Schneider. Ein wirklich neues Nachdenken über Deutschland hat spätestens seit dem Mauerfall nicht mehr stattgefunden, von rühmlichen Ausnahmen wie Enzensberger, Habermas oder Ulrich Beck abgesehen. Die meisten linken Intellektuellen verharrten in der traditionellen Rolle der Mahner und Warner. Es wurde nicht voraus-, sondern hinterhergedacht. Lagertreue war wichtiger als Erkenntnis.

Klaus Staeck . Nicht alle schweigen. Der Mehrheit der Medien gefällt nur nicht, was jene zu sagen haben, die dem Mainstream widersprechen. Deshalb hört und liest man häufiger von den pflegeleichten Schwadroneuren und neoliberalen Hofintellektuellen, die sich ins vorherrschende Gesamtkonzept einfügen lassen. Es gibt eine Fülle von gesellschaftskritischen Veröffentlichungen, von denen jedoch nicht alle talkshow-kompatibel sind. Bei näherer Beschäftigung mit den Thesen von Franz Müntefering wird man schnell feststellen, dass er sich ganz im Gegenteil auf maßgebliche intellektuelle Vordenker der Sozialdemokratie stützen kann. Es bleibt ein Armutszeugnis für alle in den Medien Tätigen, dass es erst des Heuschrecken-Bildes bedurfte, um sich öffentlich Gehör zu verschaffen.

F.C. Delius. Die Gähnfrage seit 50 Jahren. Wenn Sie beim Begriffsplural „ Intellektuelle“ über Grass, Walser, Enzensberger hinausdenken, zum Beispiel auch an Journalisten, beantwortet sie sich von selbst.

Walter Jens. Ich bin mir nicht sicher, ob die Intellektuellen im öffentlichen Diskurs überhaupt je maßgeblich waren. Es gab die Brandt-Böll-Ära, heute sagen Grass und Enzensberger das Ihre. Intellektuelle brauchen und sollten nicht immer à jour sein. Die Welt ist in derart beständigen Umschwüngen, dass es sich gerade für Intellektuelle ziemt, sich Zeit zum Nachdenken zu nehmen und sich ein bisschen zurückzuhalten. Für den anstehenden Wahlkampf gilt das selbstverständlich nicht. Res venit ad triarios – die Sache kommt zur Entscheidung. Da können wir Westerwelle und Co. doch nicht alleine lassen.

Paul Nolte. Ich bin da gar nicht so skeptisch; teils ist das auch ein Wahrnehmungsproblem: Ähnlich wie man denkt, früher seien die Politiker besser gewesen. Aber es hat Rollenverschiebungen gegeben, die manchmal sogar näher an „die Macht“ herangeführt haben wie im Falle der „Experten-Intellektuellen“ – etwa der Gesundheitsökonom Karl Lauterbach –, die die derzeitige Bundesregierung beraten. Präsenz im Wahlkampf? Ja. Denn es gibt vieles, was in den kommenden Wochen noch auf den Begriff gebracht werden muss. Intellektuelle müssen dabei nicht Wahrheiten verkünden, sondern Spannungen sichtbar machen, Dilemmata formulieren.

Peter Rühmkorf. Der öffentliche Diskurs findet großenteils im Fernsehen statt. Ich habe von den bei Antwort Nummer 1 Genannten kaum jemanden jemals zur Wortmeldung eingeladen gesehen. Dem politischen Kabarett, das ja nicht ausgestorben ist, scheint hingegen der Nerv für wirkliche politische Macht und eine vom Kapital in die Enge regierte Regierungskoalition abhanden gekommen zu sein.

Peter Schneider. Es ist nicht wünschenswert, dass die Intellektuellen aus der Öffentlichkeit verschwinden, wie es etwa in den USA der Fall ist: Selbstverständlich sollten sie sich im Wahlkampf einmischen. Wichtigste Voraussetzung dabei ist, dass man ein Denken ohne Dach riskiert und auch, wie Pasolini es nannte, Opposition gegen das eigene Lager macht – wo es nötig ist. Denken ist keine Solidaritätsveranstaltung.

Es ist doch verblüffend, dass die intensivste, mit großen Gefühlen geführte Debatte die über die Rechtschreibreform war. Sagt das nicht etwas über unsere politische Kultur? Wie viele Grundsatzartikel gab es dagegen darüber, dass wir seit Jahrzehnten über unsere Verhältnisse leben und die Republik von Grund auf reformiert werden muss? Wie viele Intellektuelle sind Schröder in seinem immer noch viel zu zaghaft angepackten Vorhaben beigesprungen? Im Grunde haben sie immer nur gesagt, dass es sozial gerecht zugehen soll. Ein vorausdenkender Intellektueller müsste Probleme, die die Existenz der Nation betreffen, unerschrocken antizipieren, ohne Furcht vor Beifall von der falschen Seite.

Klaus Staeck. Wer nur noch den Experten ein Mitspracherecht in Debatten von gesellschaftlichem Interesse zubilligt, erweist der Demokratie einen schlechten Dienst. Einmischung in fremde und eigene Angelegenheiten bleibt erste Bürgerpflicht. Erst recht in einem Wahlkampf. In einer Zeit, in der alles und jedes ohne Umschweife als „alternativlos“ dargestellt wird, ist es schwer, zu öffentlichen Diskursen anzustiften, zumal sich die notwendigen Sprachrohre häufig genug als Vermittler verweigern. Jedenfalls sollten die Intellektuellen sich bei ihrem Engagement für das Gemeinwohl nicht scheuen, gelegentlich dem Spott der Mehrheit preisgegeben zu werden, von denen, die heute so versiert auf dem Klavier der Stimmungsdemokratie spielen.

F.C. Delius . Aber ja. So lange zum Beispiel Herr Westerwelle weiter als Lobbyist der Pharmaindustrie arbeitet.

Walter Jens. Es stimmt nicht, dass keine politischen Alternativen zur Wahl stehen. Entweder es gibt Markt pur à la Ackermann: Jeder bereichere sich, so gut er kann. Oder es gibt eine Marktpolitik à la Ludwig Erhard, bei der das soziale Element eine bedeutende Rolle spielt. Wir dürfen den Markt nicht sich selbst überlassen und müssen die letzten Aufrechten unterstützen. Es ist traurig genug, dass sich diese Aufrechten nicht unbedingt in der SPD finden, sondern Heiner Geißler oder Norbert Blüm heißen.

Paul Nolte. Der Bundespräsident spricht gerne von der notwendigen „grundlegenden Erneuerung“ des Landes. Das bleibt die Zielvorgabe; Deutschland muss dynamischer werden, moderner, chancenreicher. Die Alternative muss die Opposition formulieren, und ihre Probleme damit verweisen auf die Spannungen innerhalb von Rot-Grün: Alternative wozu? Zu dem ursprünglichen 98er-Projekt und 68er-Vermächtnis, zur Liberalisierung? Ja, aber ohne Rückkehr zum status quo ante. Zu Münteferings neuem Antikapitalismus, zum Schutz- und Opferreflex der Deutschen? Ganz entschieden. Zu Schröders Agenda 2010? Schwerlich.

Peter Rühmkorf. An Reformpolitik kommt keine Regierung vorbei. Die von mir, die von uns Gewünschte bedarf freilich nicht bloß eines anderen Etiketts. Sie gehört von Grund auf umdirigiert, um das gestörte Equilibrium von Arbeit und Kapital wirklich neu in die Waage zu bringen.

Peter Schneider. Dieser Wahlkampf dreht sich bislang ausschließlich um ein Thema: um Arbeitsplätze und die lahmende Wirtschaft. Das schwarzgelbe Lager muss erst einmal beweisen, dass es die Probleme besser lösen kann. Falls die Wähler jedoch durch einen Regierungswechsel einen Wirtschaftsaufschwung und mehr Arbeitsplätze bekommen, werden sie daneben auch eine andere politische Kultur bekommen. Zwar ist kaum anzunehmen, dass dann im Kanzleramt jeden Morgen gebetet wird. Aber natürlich wird ein Sieg der Schwarzgelben auch Folgen haben, die sich ihre Wähler vielleicht gar nicht wünschen: für das Projekt der zivilen Gesellschaft etwa, in der Ausländerpolitik, in Sachen Schwulenehe, Familienpolitik, alleinerziehende Mütter. Diese andere politische Kultur macht es mir unmöglich, zum Wechselwähler zu werden. Ich bin eben einer von diesen unheilbaren SPD-Stammwählern, auch wenn mich mein Verstand manchmal zum Idioten erklärt.

Klaus Staeck. Nach der weitgehenden Selbstentmachtung der Politik wird es zunehmend schwerer, den Wählern zu erklären, für welche Politikfelder sie überhaupt noch Verantwortung trägt und somit bei Fehlentwicklungen steuernd eingreifen kann. Allem Gerede von der Alternativlosigkeit zum Trotz liegen die Unterschiede schon jetzt auf der Hand und werden noch zunehmen. Die Entscheidungen fallen zwischen den verschiedenen Vorstellungen auf den Gebieten Gesundheit, Energie, Steuern, Kündigungsschutz, Tarifautonomie, Bildung, Sicherheit und Ökologie. Die Auseinandersetzungen werden sich zwischen den Anhängern einer sozialen Marktwirtschaft und den Befürwortern eines Casinokapitalismus abspielen mit all seinen Folgen für die Bürger.

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