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Schreibtischarbeit. Leonard Bernstein.

© dpa

100 Jahre Leonard Bernstein: Im Westen nichts Scheues

Bernstein verstand sich vor allem als Komponist. Der Rest der Welt sah das anders.

Die „West Side Story“ allein hätte ausgereicht, um ihm ewigen Nachruhm zu sichern. Weil Leonard Bernstein 1957 damit genau das einlöste, was er selbst ein Jahr zuvor in seiner TV-Serie „Omnibus“ gefordert hatte: das Musical- Genre auf eine neue Stufe zu heben, ähnlich wie das in Europa um 1750 mit der Oper passiert sei, als die sich durch Mozart vom harmlosen „Singspiel“ zur ernst zu nehmenden Kunstform entwickelt habe.

Ein „typisch amerikanisches Thema“, das in „unverfälschter amerikanischer Sprache“ von „unserem Rhythmus, unserem Verhalten, unserer Art zu leben“ erzählt, hatte Bernstein fürs Musical gefordert, in Abgrenzung zu den Operetten und Tingeltangelshows, mit denen sich das Publikum in die irrealen Traumwelten von Adel und exotischen Ländern flüchtete. Die „West Side Story“ legte den Finger also in die Wunde. Jugendkriminalität war 1957 ein Riesenproblem in New York, zudem führte der massive Zuzug von Wirtschaftsflüchtlingen aus dem bitterarmen Puerto Rico auf der East Side von Manhattan zu Konflikten mit der alteingesessenen Bevölkerung. Dass es dem Komponisten und seinem Choreografen Jerome Robbins gelang, in diesem Milieu eine „Romeo und Julia“-Geschichte radikal realistisch zu erzählen, machte das Stück zum globalen Erfolg.

Bernstein ist mit der „West Side Story“ zwar nicht die große amerikanische Oper gelungen, um die er sein ganzes Leben erfolglos rang, aber auf jeden Fall ein großes amerikanisches Opus, ein stilbildendes Werk für nachfolgende Generationen, ein Meilenstein in der Musikgeschichte seiner Heimat. Und die hat er ja unbedingt weiterentwickeln wollen, stärken, ja idealerweise auf Augenhöhe mit der europäischen Konkurrenz heben. Im Gegensatz zum Rest der Welt sah er sich selber nämlich in allererster Linie als Komponist. Avantgarde-Tonsetzer allerdings mieden ihn eher, das Publikum war oft konsterniert, und von der Presse musste er mehr als einmal brutale Kritik einstecken, ja sogar Häme, für seine Beiträge zur sogenannten ernsten Musik. Dabei war es ihm damit wirklich ernst. Ambitioniert ist jede seiner drei Sinfonien: Die erste entstand 1942 und handelt vom Propheten Jeremia, dessen Klagelied eine Mezzosopranistin im Finalsatz singt. Die zweite, 1949 uraufgeführt, ist von W. H. Audens Gedicht „The Age of Anxiety“ inspiriert und zeichnet den Abend von vier New Yorkern nach, die in einer Bar über die Lage der Welt und die menschlichen Abgründe diskutieren. Der dritten schließlich, „Kaddish“, von 1961 bis 1963 geschrieben, liegt ein jüdischer Gebetstext zugrunde, das Streitgespräch des Menschen mit seinem Gott.

Hadern mit der Epoche

„Das Werk, das ich mein ganzes Leben lang immer wieder geschrieben habe, handelt von jenem Kampf, der aus der Krise unseres Jahrhunderts – einer Glaubenskrise – erwächst“, hat Bernstein 1977 bekannt. Als Humanist hadert er mit den gesellschaftlichen Entwicklungen seiner Epoche, mit Krieg und Leid, will aber zugleich auch die Hoffnung nicht aufgeben, dass es einen Ausweg gibt, eine neue, Frieden stiftende Form des Miteinanders. Schroff und dissonant geht es in den Sinfonien oft zu, und auch in dem abendfüllenden Ballett „Dybbuk“ (1974): Weil das Liebespaar Leah und Chanon nicht heiraten darf, stirbt Chanon an gebrochenem Herzen – und fährt anschließend als Totengeist in den Körper seiner Geliebten.

Die aggressive Dramatik der Werke mit ihrem wildem Perkussionsfeuer und den apokalyptischen Bläsern kontrastiert Bernstein mit innigen, ja hymnischen Passagen von bittersüßer Schönheit, die auch mal den Kitsch streift. Es ist die Zerrissenheit ihres Schöpfers selbst, die sich in diesen Partituren widerspiegelt. Katastrophen und religiöse Fragen sind nur äußere Anlässe für Bernstein, um sein Innerstes bloßzulegen. Da verwundert es wenig, wenn sich das Ergebnis dann chaotisch ausnimmt, wenn die vielen Persönlichkeitssplitter sich nicht zur Einheit fügen, alle Genres von der Sinfonie übers Oratorium bis zur Oper aufeinanderprallen, der Klang zwischen Atonalität und Tradition oszilliert.

Als Versuche einer Selbsttherapie sind Bernsteins E-Musik-Beiträge aufschlussreich, in der Musikgeschichte des 20. Jahrhunderts aber bleiben sie Fußnoten. Ganz authentisch, locker und wirklich inspiriert wirkt er dagegen, wenn er für den Broadway schreibt. „Candide“, zeitgleich mit der „West Side Story“ in Angriff genommen, ist eine brillante, schwarzhumorige Groteske, die Voltaires Vorlage auf Augenhöhe begegnet. Frecher lässt sich der unerschütterliche Optimismus der US-Amerikaner nicht herausfordern – und das Stück hat dann auch erst in Europa Karriere gemacht. Im November wird Barrie Kosky seine Sicht auf „Candide“ an der Komischen Oper vorstellen. Absolut lohnenswert wäre auch eine Wiederentdeckung der frühen Musicals „Wonderful Town“ und „On The Town“, beides rasante Komödien, die in New York spielen. Echte Großstadtmusik hat Bernstein hier komponiert, mal jazzig, mal südamerikanisch, mal im Stil der britischen Operetten von Gilbert & Sullivan. Die Charaktere sind witzig gezeichnet, jede Nummer hat ihren eigenen Twist.

Blues trifft auf klassisches Orchester

Und dann ist da natürlich noch die „Mass“, jener Hybrid, mit dem Bernstein 1971 das Publikum bei der Einweihung des Kennedy Centre in Washington schockierte. Zwölftonmusik trifft auf Blues, E-Gitarre auf klassisches Orchester, es gibt drei Chöre und ausgedehnte Tanzszenen, gesungen wird lateinisch wie auch englisch – und am Ende schleudert der durchs Stück führende Zelebrant verzweifelt die Monstranz zu Boden. Das ist Postdramatik avant la lettre und könnte darum heute auf einer Bühne durchaus neue Wucht entfalten.

Fast 100 Nummern umfasst Bernsteins Werkkatalog, zum Jubiläum hat Antonio Pappano mit seinem Orchestra di Santa Cecilia die Sinfonien neu eingespielt und Kent Nagano den Opernvollflop „A Quiet Place“. Sowohl Sony als auch Universal bieten preislich wohlfeile CD-Boxen mit historischen Aufnahmen an. Das ist verdienstvoll, wird aber letztlich nichts daran ändern, dass von Lennies Œuvre letztlich doch nur die „West Side Story“ fürs Kernrepertoire taugt. Wobei die beste Aufnahme des Stücks noch nicht einmal vom Komponisten selbst stammt.

1984 hat Bernstein das Werk mit den Opernstars Kiri Te Kanawa, José Carreras und Marilyn Horne im Studio aufgenommen – dem absurden inneren Drang folgend, das Musical dadurch in die Sphäre des Hochkulturellen zu ziehen. Das Verdienst, die absolute Referenzaufnahme dirigiert zu haben, kommt darum Michael Tilson Thomas zu. 2013 konnte er von den Erben die Sondergenehmigung für einen Live-Mitschnitt des Gesamtwerkes erwirken. Und diese Aufführung vibriert nur so vor Energie, das San Francisco Symphony Orchestra wird zur Riesen-Bigband, alle Beteiligten haben diese Melodien und Rhythmen wirklich im Blut, lieben und verehren die „West Side Story“ hörbar als das, was sie ist: ein nationales Kulturgut. Frederik Hanssen

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