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Kultur: 100. Todestag Verdis: Lasst die Kirche in der Oper!

Es war, gewollt oder nicht, eine Gegendarstellung, eine vehemente Erwiderung - und ein großer, trotziger, bisweilen erschreckend berührender Abend. Knapp drei Wochen nachdem Daniel Barenboim mit der Requiem die Berliner Verdi-Festivitäten feierlich und unter größtem Publikumsjubel im Konzerthaus eröffnet hatte, ergriff nun Claudio Abbado das Wort - am anderen Ende der Stadt und tatsächlich so, als würde er dieser Toten-Messe, diesem Stück, das nichts so sehr verteidigt wie das Leben, mit weit aufgerissener Brust begegnen.

Es war, gewollt oder nicht, eine Gegendarstellung, eine vehemente Erwiderung - und ein großer, trotziger, bisweilen erschreckend berührender Abend. Knapp drei Wochen nachdem Daniel Barenboim mit der Requiem die Berliner Verdi-Festivitäten feierlich und unter größtem Publikumsjubel im Konzerthaus eröffnet hatte, ergriff nun Claudio Abbado das Wort - am anderen Ende der Stadt und tatsächlich so, als würde er dieser Toten-Messe, diesem Stück, das nichts so sehr verteidigt wie das Leben, mit weit aufgerissener Brust begegnen.

Größer, bezeichnender hätten die Unterschiede kaum ausfallen können: Wo Barenboim mit der Staatskapelle auf glänzende Außenhaut-Effekte setzte und ganz auf den grellgezackten Schattenwurf dieser berüchtigten "Oper im kirchlichen Gewand", da modellieren Abbado und die Philharmoniker das Ganze gleichsam von innen heraus. Eine Skulptur entsteht, eine Lebenslandschaft, eine wild zerklüftete, mal schwerer, mal leichter atmende Szenerie. Vielleicht erstmals seit Carlo Maria Giulini wird wieder sinn-, augen- und ohrenfällig, was Hans von Bülow mit seinem berüchtigtem Votum von der Oper im kirchlichen Gewand (welches er Jahre später errötend zurücknahm) ebenso richtiger- wie fälschlicherweise meinte: die immanente Theatralik dieser Partitur, die kluge, höchst ökonomische Dramaturgie, der alles gehorcht. Nichts in dieser Musik steht nur für sich, alles bezieht sich immerzu, fragt, redet, antwortet, zweifelt - aus der Vergangenheit des Leidens heraus, in eine lichtere, tröstlichere, menschlichere Zukunft hinein.

Und Claudio Abbado - von Fernsehkameras rundum bedroht, in seiner Gestik durchaus kraftvoll, ja emphatisch - erlebt eine Sternstunde der Inspiration. Kein Streichertremolo, das von ihm nicht vorgefühlt wäre, kein Ostinato, dem der Herzschlag des Komponisten nicht ebenso innewohnte wie das Klischee des naiv Leierkastenseligen in Verdis Musik. Im Dies irae etwa läuten die Trompeten und Posaunen mit einer Schneidigkeit und Kälte zum Jüngsten Gericht, die nur mehr im Purgatorium enden kann. Alles Geräuschhafte jedoch, aller hohle Weltenlärm wäre nichts, wenn mit dem Lacrimosa nicht jene unerhört schöne, samtige Traurigkeit wieder in den Saal Einzug hielte, die von Mitleid spricht und vom Wissen um den anderen. Es sind die Übergänge, es ist das richtige Innehalten im liturgischen Vollzug, was auch das Geheimnis dieser Aufführung ausmacht.

Mit Angela Gheorghiu, Daniela Barcellona, Roberto Alagna und Julian Konstantinov präsentierte sich eine strahlende Opernsängerbesetzung in der vollbesetzten Philharmonie: Wie Violetta Valéry, die Gräfin Eboli, der kleine Bruder von Otello und König Philip schmachteten, flehten und agierten die Vier vor dem trefflich robusten Klanghorizont aus Schwedischem Rundfunkchor und Orfeon Donostiarra - ein Stück Welttheater, in dem man gerne noch länger beheimatet gewesen wäre.

Christine Lemke-Matwey

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