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11. September 2001: Seefahrt tut Nothung

Kai Müller steht am Schiffsbug der USS New York

Gram heißt das zerbrochene Heldenschwert Sigmunds in der Nibelungensage. Und allen Grund gibt es, sich zu grämen: Das Symbol der Herrschaft ist in zwei Teile zerbrochen, alle Versuche, es wieder zusammenzusetzen, gescheitert. Richard Wagner taufte das Schwert im „Ring“ bekanntlich auf das weniger fassbare Wort Nothung um, aber am hässlichen, nagenden Gefühl der Verdammnis, den die germanischen Recken in ihrer grimmigen Verzweiflung auf den Gegenstand selbst projizieren, ändert das wenig. Bis Siegfried auf die Idee verfällt, das kaputte Mordwerkzeug zu zerraspeln, einzuschmelzen und neu zu schmieden. Das bricht den Bann.  

Es gibt viele Arten, Zerbrochenes wieder zusammenzufügen. Die Amerikaner haben sich für einen Schiffsbug entschieden. Für den Bau der USS New York, die am heutigen Samstag von der amerikanischen Marine in Dienst gestellt wird und für Landungsoperationen konstruiert ist, wurden Teile des zerstörten World Trade Centers verwendet. Die Stahlplatten wurden eingeschmolzen und in der Vordersektion eingesetzt. Ganz ungewöhnlich ist das nicht, auch Kirchenglocken wurden schon zu Kanonen umgeschmiedet. Doch dürften Materialknappheit oder die hohen Stahlpreise die USA in diesem Fall nicht dazu bewogen haben, auf das Altmetall zurückzugreifen. Vielmehr erfüllt der zum Schiffsbug umgeschmolzene Trümmerhaufen des früheren New Yorker Wahrzeichens eine wichtige psychotherapeutische Funktion. Statt gramgebeugt mit der Ruine zu leben, so die Botschaft, wird eine Waffe gefertigt, die auf die Aggressoren des 11. September zurückschlagen soll. Die Opfer von 9/11 gehen im übertragenen Sinn auf die Jagd nach ihren Mördern. So steht die USS New York im Dienst eines psychischen Reinigungsrituals. Was eben Wunde war, wird nun selbst Wunden schlagen.

In Kapitän Ahab, diesem amerikanischen Wiedergänger Siegfrieds, findet das traumatisierte Land den Gewährsmann für seine alchemistische Voodoopolitik. Der ließ die für Moby Dick bestimmten Harpunen in Walblut aushärten, um das seiner Meinung nach furchtbarste Meeresgeschöpf mit seinen eigenen Waffen zu schlagen.

In der Frühzeit der Materialtechnik hoffte man, aus Stroh Porzellan und Gold herstellen zu können. Das klappte nicht. Aber der Glaube, aus profansten Werkstoffen eine unverwüstliche Legierung zu gießen, ist noch immer lebendig. Wenn er auch nach einer gewissen Absicherung verlangt. So hält sich bei Schiffstaufen das mystische Ritual, nach dem eine Champagnerflasche am Schiffsbug zerschmettert wird, in der Hoffnung, dass damit die größte Katastrophe überstanden ist. Bei der USS New York fährt die Katastrophe immer mit.

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