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20 Jahre Mauerfall: Deutschland, eine Patchworkfamilie

Muss sich die Nation auf die Couch legen? Die Psychoanalytikerin Vera Kattermann gibt zum Mauerfall-Jubiläum eine kleine Psychoanalyse der wiedervereinten Nation.

Zum 20. Jahrestag des Mauerfalls wird eine ambivalente Hoffnung spürbar. Kann der Blick zurück Klischeehaftes differenzieren? Welche vergessenen oder verdrängten Aspekte könnten beim öffentlichen Erinnern wiederkehren?

Die Spuren der deutschen Teilung sind heute weitgehend verwischt. Die Grenze ist vielerorts nur noch zu erahnen, kulturelle wie ökonomische Unterschiede verlieren an Bedeutung. Mit einigem Wohlwollen könnte man sagen, dass die Wiedervereinigung bald abgeschlossen sein wird, und dafür auch die ostdeutsche Bundeskanzlerin zum Beweis heranziehen.

Aber ist die Nation auch seelisch zusammengewachsen? Betrachtet man das kulturelle Handeln, so finden sich kaum mehrheitsfähige Entwürfe einer deutschen Nachwende-Identität. Das gescheiterte Ausschreibungsverfahren für das Berliner Einheitsdenkmal, die eindimensionalen Feierlichkeiten zum 60. Jahrestag der Bundesrepublik, das Ausblenden einer ostdeutschen künstlerischen Position in der Ausstellung „60 Jahre – 60 Werke“: Bei der symbolischen Integration fällt die Bilanz ernüchternd aus.

Es fehlt auch eine treffende Metapher, die in Analogie zu „Mauer“ und „Stacheldraht“ der Teilung, das wiedervereinte Deutschland spiegeln könnte. Klischeebilder wie die des Jammer-Ossis oder Besser-Wessis wirken heute zwar antiquiert – doch wie sehen wir uns dann?

Deutsch-deutsche Dialoge: Die einen reden laut, andere verstummen

Deutschland leidet unter Identitätsdiffusion; die kollektive Identität hat merkwürdig unklare Konturen. Wobei die Frage nach nationaler Identität schnell in den Verdacht einer gedankenlosen Verklärung deutschen Nationalbewusstseins oder gar der Nähe zu nationalsozialistischen Einheits- und Größenfantasien gerät. Die „unbefangene nationale Freude“, die viele bei der WM 2006 ausmachten, täuscht darüber hinweg, dass aufgeschminkte Fahnen noch kein ungebrochenes Verhältnis zur Nation ausweisen.

Muss sich die Nation also auf die Couch legen? Die Metapher ist schief: Gesellschaften sind nicht mit Individuen vergleichbar, sondern heterogen, sie weisen Macht- und Abhängigkeitsstrukturen auf und ringen um Zugehörigkeit und Ausschluss. Zutreffender wäre das Bild einer Familie auf der Suche nach ihrem Selbstverständnis. Aus Sicht der systemischen Psychologie lässt sich vermuten: Deutschland als Patchwork-Familie leidet 20 Jahre nach dem Mauerfall unter einem Mangel an offener Kommunikation und an unterschwelligen Konflikten. Nach der Lösung von alten Loyalitäten und Abhängigkeiten haben sich West- und Ostdeutsche gleichsam neu verpartnert und in den Aufbau einer gemeinsamen Existenz gestürzt. Wegen der fast zeitgleichen Anforderungen der Globalisierung blieb nicht ausreichend Zeit für die Auseinandersetzung und die Identitätsarbeit.

Deutschland im Therapiezimmer: Das ist eine Familie mit unterschiedlichen Erfahrungen und Perspektiven bei auffallender kommunikativer Hilflosigkeit. Es wird miteinander gesprochen, Spannungen sind spürbar, werden aber umgangen. Einige Familienmitglieder melden sich lautstark zu Wort, andere verstummen. Was behindert die Kommunikation?

Schnell zeigt sich: Die scheinbar neue Patchwork-Familie ist gar nicht so neu. Vielmehr ist es eine Familie, die sich nach schwerem Bruch wieder zusammenfindet. Dieser Bruch ist mit tiefen Schuld- und Schamgefühlen verbunden, die als emotionaler Knoten den Austausch ein- und abschnüren. Der Nationalsozialismus hatte die Spaltung in Täter, Opfer und Mitläufer zur Folge; die daraus erwachsenden moralischen Dilemmata kreisen um Schuld und Unschuld, Loyalität und Verrat, Autorität und Unterwerfung – und sie wirken in den späteren Generationen fort.

Der Bau der Mauer bedeutete damit auch den Versuch, die Spaltungen und die Spuren der verantworteten Gewalt auf eine geopolitische Projektionsfläche zu verlagern, dort buchstäblich zu zerlegen und einzubetonieren. Unter dem Einfluss der Großmächte blieb dann gebunden, was seelisch nicht auszuhalten und schon gar nicht in Worte zu fassen war. Nach dem Fall der schützenden Mauer geriet vieles in Bewegung. Eine Integration abgespaltener Schuld- und Schamgefühle zeigt sich etwa eindrücklich im Berliner Holocaust-Mahnmal. Dennoch ist die Hinwendung zu den alten Konflikten weiter von Angst begleitet – sie könnte den Familienzusammenhalt sprengen.

Man feiert die Helden von '89. Aber sie spielen politisch keine Rolle

Die Identitätsdiffusion betrifft nicht nur Vergangenes. Während sich für die Westdeutschen mit dem Fall der Mauer so gut wie nichts änderte, mussten Ostdeutsche den Verlust von Vertrautem in fast allen Lebensbereichen hinnehmen – eine Migrationserfahrung ohne Ortswechsel. Sinnbildlich: Die neue Lebenspartnerin und ihre Kinder kamen in abhängiger Position in den Haushalt, fast ohne eigene Mittel und, überspitzt gesagt, als existenziell Gescheiterte, mit angegriffener Würde.

Die materielle Überlegenheit des kapitalistischen Westens führte häufig zu einer Entwertung des Ostens. Schon während der Teilung verbarg sich hinter großzügigen Gesten oft subtile Verachtung. Mitleid und Scham, Gier und Neid, Gefühle von Überlegenheit und Minderwertigkeit prägten die Beziehung zwischen Ost- und Westdeutschen: Gefühle, die ihr zersetzendes Potenzial entfalten, solange man sie nicht aussprechen kann.

Bei den Ostdeutschen gibt es auch untereinander Spannungen; eine Auseinandersetzung zwischen Systemträgern, Mitläufern und Systemkritikern findet bis heute kaum statt. Der abwertende Blick der Westdeutschen tut sein Übriges: Ein Kollektiv ohne positiven Selbstbezug wird wenig Bereitschaft spüren, zusätzlich zur empfundenen oder aufgedrängten Scham vergangene Schuldkonflikte zu untersuchen. Vielmehr erforderte das Ende der DDR eine umfassende Neuverortung mit Brüchen und Zusammenbrüchen. Der inzwischen geläufige Begriff der „Wende“ bagatellisiert dabei die Bedeutung des politischen Aufstands und die psychosoziale Tragweite seiner Folgen.

Die Ambivalenz des Verdrängten zeigt sich auch, wenn der Erfolge gedacht wird. Einerseits werden die Helden der 89er-Revolution gefeiert, doch ihre politische Leistung scheint ohne Relevanz für das Heute und die erlittenen Repressalien wie romantische Folklore. Die lebendigen, systemsprengenden Kräfte der Wendezeit wirken in der gegenwärtigen Krisenstimmung fern und unwirklich.

Im Familientherapiezimmer wird immer wieder ein Paradox deutlich. Man weiß um all diese Dynamiken, auf Nachfrage wird jeder davon erzählen können. Aber es ist ein gleichsam totes Wissen, weil es zwar intellektuell erfasst wird, emotional jedoch kaum Tragweite erhält. Es ist wie bei einem radioaktiven Endlager: Eine Entsorgung unter Tage verspricht nur auf den ersten Blick die Lösung des Problems. Aber die Fässer marodieren, das Bergwerk ist instabil, also hofft man auf Gefahrenminderung durch den Zerfall in Halbwertzeit. Erst mit zeitlichem Abstand wird eine Integration explosiver Gefühle möglich.

20 Jahre nach 1989 geht es also vor allem darum, die Familie zur Auseinandersetzung anzuregen, damit Gefühle wie Groll, Verbitterung, Scham oder Wut geäußert werden können. Das erfordert Mut, aber auch ein frisches Diskussionsklima. Auch jene, die bislang eher nicht gehört wurden, sollten dabei einbezogen werden: nicht zuletzt die Migranten, die das deutsch-deutsche Zusammenwachsen scheinbar unbeteiligt mitverfolgten. Ihre Perspektiven können das Nachdenken über die „deutschen“ Fragen bereichern und ihre Dringlichkeit markieren.

An den Opfern fremdenfeindlicher Gewalt zeigt sich das Potential von Gewalt und Hass, das jenseits geschliffener Vergangenheitsdiskurse weiter schwelt. Es geht also nicht darum, der vereinten Nation 2009 eine verbindende Identität verordnen zu wollen. Vielmehr wird das Charakteristische im Selbstverständnis Deutschlands die Widersprüchlichkeit bleiben, die sich im Wissen um die Abgründe totalitären Denkens an Kontroverse und Vielfalt erfreut.

- Die Autorin lebt als Psychoanalytikerin in Berlin.

Vera Kattermann

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