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Kinder vor der Mauer 1973 im Märkischen Viertel in Berlin-Reineckendorf

© akg-images

25 Jahre Mauerfall: Hüben Fetzer, drüben Nutella

Ein paar Stunden Schlaf wären mir lieber gewesen: Die Berliner Schriftsteller Jochen Schmidt und David Wagner erinnern sich an ihre Kindheiten in Ost und West.

Jochen Schmidt ist NVA-Soldat, als am Abend des 9. November 1989 die Mauer fällt. Er lernt an dem Tag das korrekte Marschieren in Reih und Glied, muss in der Nacht zum Brandschutzdienst raus und um fünf Uhr in der Früh schon wieder aufstehen, seine Stube hat Küchendienst. Die Nachricht von der Maueröffnung nimmt er eher teilnahmslos hin: „Ein paar Stunden Schlaf wären mir lieber gewesen.“

David Wagner dagegen denkt in der Nacht vom 9. auf den 10. November gar nicht ans Schlafen. Er will in die Disco, donnerstags ist dort „Independent-Tag“. In der Schule reden sie tags drauf über nichts anderes als über das, „was da in dieser fernen sogenannten DDR geschah“. Im Nachhinein, gut 25 Jahre später, sind die Geschehnisse für Wagner vor allem „ein großes, außergewöhnliches Fernsehereignis“ gewesen, „das mir zum ersten Mal das Gefühl vermittelte, im Hier und Jetzt passiere etwas, (...)“

Letztendlich sind beide zu jung und zu sehr mit sich selbst beschäftigt, um die historischen Umwälzungen dieser Tage sogleich entsprechend würdigen zu können. Als Abschluss ihrer Erinnerungen an „zwei deutsche Kindheiten“ passen diese unaufgeregten Einträge aber umso besser, erzählen die 1971 geborenen Schriftsteller David Wagner und Jochen Schmidt in ihrem Buch „Drüben und drüben“ von zwei zwar durchaus unterschiedlichen, aber doch ähnlich behüteten, unspektakulären Kindheiten. Mittelschichtskindheiten gewissermaßen: Wagner wächst im tiefsten Westen der Bundesrepublik auf, in Andernach am Rhein, in einer gutbürgerlichen Gegend, Haus, Garten, zwei Autos in der Garage;  Schmidt als Sohn zweier Sprachwissenschaftler in der Hauptstadt der DDR, in Ost-Berlin, genauer: in einem Neubauviertel in Buch.

David Wagner
David Wagner

© Jan Woitas/p-a/dpa

Beide haben Vorgaben bekommen, denn ihre jeweils eigenständigen, getrennt voneinander geschriebenen Erinnerungstexte sind nach bestimmten Themenkomplexen geordnet. Da sind neben dem Tag des Mauerfalls die Räume der Häuser, in denen sie aufgewachsen sind, Kinderzimmer, Wohnzimmer, Küche und Bad. Und da gibt es Kapitel, die mit „Wege“, „Garten“, „Schule“, „Ferien“, „Im Auto“ und „Niemandsland“ überschrieben sind. Schmidt erzählt von den Milchtüten, die in „sechseckigen, grünen Bottichen, stapelbar“ in der Kaufhalle lagen, von Schokoriegeln, die „Märchenriegel“ und „Fetzer“ hießen, von „drei Plasteschütten“ am Geschirrschrank über der Spüle in der Küche, „für Mehl, Semmelbrösel und Zucker“. Und von einer Welt, die zwar kein Markenbewusstsein kannte, aber „zweigeteilt war in Dinge ,von hier‘ und ,von drüben‘"

Auch Wagner berichtet Ähnliches: vom Zähneputzen nach dem Aufstehen, „dann gab es Marmeladen-, Honig- und Nutellabrötchen, von seiner und seiner Geschwister Unlust, im Haushalt zu helfen, vom Schulschwimmen, das er sehr mochte, „weil die Mädchen in ihren Badeanzügen zu sehen waren“, von „Schaumerdbeeren und kleinen Gummi-Colafläschchen“, die er am Schwimmbadkiosk „zu fünf Pfennig das Stück“ erwarb. Überhaupt kommt bei ihm zunehmend das andere Geschlecht ins Kinder- und Jugendbild.

Jochen Schmidt
Jochen Schmidt

© Imago

Interessanter wird es, wenn beide vom rein Deskriptiven abweichen, sie von Reisen etwa nach Polen (Schmidt) oder Berlin (Wagner) erzählen. Oder sie ihr damaliges Verhältnis zum anderen Deutschland zu reflektieren versuchen, was dann etwas Symptomatisches bekommt, da schreiben sie wirklich regelrecht aufeinander zu. Bei Schmidt spielte der Westen stets eine Rolle, als Vergleich und auch, weil er West-Verwandte hatte. Wagner hatte zwar einen Lehrer, der seine Schüler drauf hinwies, dass die DDR immer nur in Anführungsstrichen zu setzen sei und es „BR Deutschland“ und nicht „BRD“ heiße – aber die DDR spielte in dieser Kindheit sonst keine Rolle. „So richtig gibt es die DDR erst“, glaubt Wagner, „seit es sie nicht mehr gibt.“

„Drüben und drüben“ hat natürlich in vielen Passagen etwas von Pop-Büchern gleicher Couleur – von „Generation Golf“ bis „Zonenkinder“; und die unterschiedliche Tonart beider Autoren kommt bisweilen gut rüber: Schmidt ist immer auf eine Anekdote, einen Witz aus, dreht manchmal eine Schleife zu viel, Wagner ist zarter, hintergründiger, wenngleich nicht unwitziger. Wirklich erstaunlich jedoch ist, wie präzise und detailliert beide Autoren ihre Kindheit wieder in den Blick bekommen. Als sei diese Form der Erinnerung eine Obsession, als ließe sich hauptsächlich damit ein literarisches Werk bestreiten, man denke auch an Wagners Debütroman „Meine nachtblaue Hose“ oder sein Buch „Spricht das Kind“.

David Wagner schreibt es auch einmal gänzlich unvermittelt: „Ich habe diese Kindheit immer dabei, aus ihr komme ich nicht heraus, alles was war, schleppe ich mit mir herum.“ Wie soll einer da die Wiedervereinigung als wirklich lebensverändernd empfunden haben?

Jochen Schmidt/David Wagner: Drüben und drüben. Zwei deutsche Kindheiten. Rowohlt Verlag, Reinbek 2014. 336 S., 19, 95 €. Buchpremiere heute, 20 Uhr, LCB

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