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Kultur: 250. Todestag Bachs: Philippe Herreweghe: "Große Musik ist geistliche Musik" (Interview)

Philippe Herreweghe, 53, studierte zunächst in seiner Heimatstadt Gent Medizin, bevor er mit dem von ihm gegründeten Collegium Vocale Ansehen vor allem als Bach-Interpret gewann. Seit einigen Jahren versucht Herreweghe auch, die Erkenntnisse der historischen Aufführungspraxis mit modernen Sinfonieorchestern umzusetzen.

Philippe Herreweghe, 53, studierte zunächst in seiner Heimatstadt Gent Medizin, bevor er mit dem von ihm gegründeten Collegium Vocale Ansehen vor allem als Bach-Interpret gewann. Seit einigen Jahren versucht Herreweghe auch, die Erkenntnisse der historischen Aufführungspraxis mit modernen Sinfonieorchestern umzusetzen.

Herr Herreweghe, seit einem Vierteljahrhundert steht Bachs geistliches Werk im Mittelpunkt ihres Musikerlebens. Glauben Sie, dass sich der streng protestantische Geist der Kantaten und Passionen heute noch vermitteln lässt?

Ich glaube nicht, dass es eine große Rolle für das Verständnis seiner Musik spielt, dass Bach der lutheranische Thomaskantor in Leipzig war. Sein Glaube ist für seine Musik etwa das, was eine Auster für das Entstehen einer Perle ist, und die Botschaft einer jeden Kantate geht weit über das Theologische hinaus. Dieses Ereignishafte merkt man in jedem guten Konzert: Wenn 2000 Menschen, von denen jeder seinen eigenen, ganz persönlichen Glauben besitzt, wie gebannt zuhören und etwas komplett Immaterielles entsteht, das alle verbindet.

Aber wenn es nur um das spirituelle Erlebnis geht, wozu brauchen wir dann die ganze historische Aufführungspraxis?

Meine Aufgabe als Musiker ist es zuallererst, die Werke so schön und rein erklingen zu lassen wie irgend möglich. Und genau das versucht die Alte-Musik-Bewegung ja, nachdem über Jahrhunderte starke Musikerpersönlichkeiten Bachs Musik ihre eigenen Stempel aufgedrückt und verfremdende Aufführungstraditionen begründet haben. Leute wie Harnoncourt haben zuerst wieder gefragt: Was steht da eigentlich genau und wie ist es gemeint, und Bach damit mehr zu sich selber zurückgebracht. Das spirituelle Erlebnis stellt sich erst ein, wenn diese Rahmenbedingungen erfüllt sind.

Trotzdem spielen Sie Bach auch mit "modernen" Sinfonieorchestern wie den Berliner oder Wiener Philharmonikern. Ist das nicht auch eine Möglichkeit, Bachs Musik in anderem Licht zu zeigen?

Ich mache so etwas in Amsterdam, wo ich im Konzert zum Beispiel Kantaten von Bach und Anton Webern gegenüber stelle. Das hat aber eigentlich nur den Grund, dass man in einem Konzert nicht zwei Ensembles zugleich auftreten lassen kann. Denn selbst wenn sehr gut gespielt wird, bleibt Bach auf modernen Instrumenten immer ein Kompromiss. Denken Sie nur an wunderbare Stellen wie das "Ich folge Dir" aus der Johannes-Passion. Da gehört die ganz eigentümliche Farbe der Barockoboe zum Innersten von Bachs Seele.

Aber ist nicht jedes Konzert sowieso ein Kompromiss zwischen dem Ideal und den Aufführungsbedingungen?

Sicher, aber als Interpret muss ich versuchen, diese Kompromisse auf das Mindestmaß zu beschränken. Ich arbeite zum Beispiel mit Frauensopranen, obwohl ich es viel schöner fände, eine Bach-Kantate mit Knabensopranen zu hören. Zu Bachs Zeiten war das wie heute die Fußballkultur in Brasilien: Hunderttausende Knaben haben gesungen und auf diesem Nährboden wuchsen die Talente, für die Bach geschrieben hat. Heute aber findet man kaum noch solche Knaben, die auch gute Musiker sind. Und in Belgien, wo ich herkomme, erst recht nicht.

Zeichnet sich Bachs Musik nicht gerade dadurch aus, dass sie eine Substanz besitzt, die durch alle Aufführungsmethoden hindurch unberührt bleibt?

Es stimmt, die großen Komponisten sind diejenigen, die strukturell denken und große Architekturen schaffen. Deshalb geht für mich auch eher eine Verbindungslinie von Josquin Despresz über Bach zu Bruckner als von Bach zu Händel oder Telemann. Und das Faszinierende an Bach ist, dass er sich nie wiederholt - gerade im Gegensatz zu all den barocken Kleinmeistern, die immer nur die gleichen drei, vier Tricks parat haben. Aber gerade deshalb gibt es sozusagen nicht einen Bach, sondern viele verschiedene. Einige, bei denen der Stil sehr wichtig ist, wie den Bach der Flötensonaten, und andere wie den Bach der Kunst der Fuge, bei denen der Stil des Interpreten keine Rolle spielt. Die Kunst der Fuge würde ich bei meinem Festival in Saintes am liebsten jeden Tag aufführen lassen. Immer in einer anderen Besetzung von Orgel bis zum Saxophonquartett.

Sind diese "vielen Bachs" dem Interpreten Herreweghe erst mit der Zeit bewusst geworden?

Das ist ein natürlicher Prozess, der sich bei mir allein schon durch die Werke ergeben hat, die ich neben Bach dirigiert habe. Ob Heinrich Schütz oder Jean-Baptiste Lully, ob deutsche Passionsmusiker oder französische Motettenkomponisten, alles findet sich letztlich irgendwo in Bach wieder.

Heisst das auch, dass Sie Bachs Werk heute ganz anders sehen und aufführen als vor 25 Jahren?

Natürlich. Ich bin ja sozusagen ein Bach-Interpret der zweiten Generation und stand zehn Jahre lang unter dem Bann der Bach-Wiederentdecker Nikolaus Harnoncourt und Gustav Leonhardt, mit dem ich schon früh zusammengearbeitet habe. Damals ging es in erster Linie darum, ein Bewusstsein für die richtige Phrasierung, Ornamentierung und Spieltechnik zurückzugewinnen. Erst nach zehn Jahren Lehrzeit habe ich es geschafft, diese Stilmittel als Handwerkszeug zu sehen, und mit ihrer Hilfe den Bach zu machen, von dem ich persönlich überzeugt bin. Denn natürlich spiegelt sich in meinen Konzerten immer stärker auch meine Persönlichkeit. Innerhalb der Alten-Musik-Szene haben sie Leute wie Ton Koopman, Joos van Immerseel oder eben mich, die innerhalb eines stilistischen Rahmens trotzdem ganz individuelle Interpreten sind. Eine absolute Wahrheit gibt es nicht.

Neben ihrer religiösen hat Bachs Musik auch eine ausgeprägt dramatische Seite. Stecken in den Passionen nicht auch Opern?

Auch wenn es ketzerisch ist, was ich sage: Es mag ja schöne Opern geben, aber wer große Musik schreiben will, schreibt geistliche Musik. Und Bachs Musik ist große Musik.

Können Sie sich nach all den Jahren Bach auch als Menschen vorstellen?

Nein, wenn ich Bach denke, denke ich Musik. Bach ist der Mystiker, dessen Blick ganz auf das Innere gerichtet war, deshalb ist alles Äußerliche, Weltliche bei ihm unwichtig.

Herr Herreweghe[seit einem Vierteljahrh], ert ste

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