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Kultur: 32 Geheimnisse meiner Familie

Rheinland trifft Sibirien: Christa Schmidts Roman „Jubeljahr“

Von Ulrike Baureithel

Das Thema der kriegstraumatisierten Kinder, die als „Machergeneration“ des deutschen Wirtschaftswunders (West und Ost) kaum zur Besinnung kamen, hat Konjunktur. In den vergangenen Jahren interessierten sich Psychotherapeuten wie Wolfgang Schmidtbauer und Historiker zunehmend für diese ganze Generation Therapiebedürftiger. Ob sich die Berliner Schriftstellerin Christa Schmidt nach dem Kreuzberger „Eselsfest“ nun mit dem Roman „Jubeljahr“ bewusst an diese Konjunktur angehängt hat, ist nicht weiter wichtig. Interessanter ist, dass eine 1959 geborene Autorin sich dieses Themas annimmt. Doch statt sich imaginär in die Erlebnisse der Elterngeneration einzufühlen, beauftragt sie ihre eigene, als „Sprecher“ aufzutreten. Das hat seinen Sinn darin, dass sich das Trauma der vertriebenen, ausgebombten, todesbedrohten Kinder auf die nächste Generation übertragen hat. Sie fühlt sich fremd, ist unfähig, Wurzeln zu schlagen oder stabile Bindungen einzugehen.

Johanna, genannt Hanna, ist eine solche Tochter. Im Ruhrgebiet aufgewachsen, lebt sie auf 120 leeren Quadratmetern in Berlin, die sie mit einem Freund gemietet hat unter der Bedingung, dass sie leer bleiben. „Eine leere Wohnung“, heißt es zu Beginn, „ist Verweigerung. Leere Wohnungen heißen: Keine Erinnerung. Verheißen. Ich will nichts als eine leere Wohnung. Bin lange genug krepiert.“ Der Freund, besser: „die Stimme“, zu der Hanna eine Verbindung herstellen konnte, ist ebenso bindungsunfähig und verschwindet plötzlich. Hanna wartet, jahrelang, in der leeren Wohnung.

Eines Tages taucht die gleichaltrige, aus Sibirien stammende Ljuba Urginowa bei Hanna auf und setzt sich fest. Hanna flieht in das leer stehende Haus einer Jugendfreundin. Dennoch kehrt sie immer wieder zu Ljuba zurück. Zwischen den beiden Frauen beginnt ein langes Gespräch, das zu den Eltern und Großeltern am Rhein und nach Sibirien führt. Hannas Mutter, durch den Krieg seelisch versehrt, hat in den fünfziger Jahren nicht nur den „falschen Mann“ geheiratet, sondern auch das „falsche Kind“ bekommen: „nur“ ein Mädchen eben. Hannas Vater ist ein Vertriebener mit einer Vorliebe für andere Frauen. „Die Sau“, heißt das im Familienjargon, „die schuld war, dass es hinten und vorne nicht reichte.“

In kindhaften Rückerinnerungen, mit stellenweise überbordendem und albern wirkendem Sprachwitz vorgetragen, setzt sich die Geschichte von Marita und Karl und dessen in Sibirien verschollenem Vater Anton Stück für Stück zusammen. Gegen die Zumutungen in der Familie wehrt sich Hanna mit hysterischen Lachanfällen, durch die sie sich den Schmerz vom Leibe hält. Ljubas eigene Erzählungen hingegen setzen die Erinnerung frei, die Hanna schreibend verarbeitet: „holprig, brüchig, ungeschliffen“. Als Journalistin scheitert sie damit, doch im Briefwechsel mit ihren „Dämonen“ kommt sie den „32 Geheimnissen“ ihrer Familie auf die Spur. Auch Ljuba ist traumatisiert, ein ausgesetztes Kind mit einem Säufervater und einer dominierenden Großmutter, die sie erzieht. Obwohl das Dorf und die Großeltern fixe Bezugspunkte bleiben, flieht Ljuba nach St. Petersburg und gerät in eine gewalttätige Umgebung. In Berlin arbeitet sie in einem Massagesalon, wird von Jens „gerettet“, bis sie ihn wieder verlässt und Hanna findet.

So folgerichtig die Erzählungen der beiden Frauen ineinander greifen, so abstrakt wirkt die jugendliche Rapper-Szene, in der sich Hanna beruflich bewegt. Zwar bemüht sich Christa Schmidt, deren Jargon und Haltung, einzufangen, doch der Verzicht auf Figuren lassen die Szene nur als Kulisse erscheinen, die von der lebendigen Erinnerung Hannas und Ljubas absticht. Am Ende sind die Mütter verschwunden, die Väter saufen oder sind wahnsinnig geworden. Wie sich dieses Trauma auf die nächste Generation vererbte und wie die damit klar kommen muss, hat Christa Schmidt in „Jubeljahr“ variantenreich und sprachlich versiert ausgebreitet. Sie hätte auf das Erzählvermögen ihrer beiden Protagonistinnen vertrauen und auf die wenig glaubhafte Konstruktion, die die beiden Familienlinien am Ende der Geschichte zusammenführt, verzichten sollen.

Christa Schmidt: Jubeljahr. Roman. Verlag Hoffmann und Campe, Hamburg 2002. 207 Seiten, 19,90 €.

Die Autorin stellt ihr Buch heute abend um 20 Uhr im Literarischen Colloquium Berlin vor. Moderation: Frank Meyer.

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