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Kultur: 38. Berliner Theatertreffen: Von Möwen und Menschen

"Die Brise frischte immer mehr auf und wurde wunderbar stetig ..

"Die Brise frischte immer mehr auf und wurde wunderbar stetig ...". Joseph Conrads Roman "Die Schattenlinie" erzählt die Geschichte eines jungen Mannes, der in asiatischen Gewässern das Kommando über einen Handelssegler hat und in eine "Todesflaute" gerät. Das Schiff kommt durch, unter entsetzlichen Entbehrungen, und der Held ist danach nicht mehr jung. Er hat, im Angesicht der Katastrophe, die geheimnisvolle "Schattenlinie" des Lebens überschritten.

Eine schöne Parabel über das Theater, gerade jetzt: Die Frage nach den "jungen" und den "alten" Regisseuren, nach Restauration oder Innovation, neuem "Biedermeier" und alter Avantgarde beschäftigt die Gemüter. Diesmal handelt es sich nicht um eine reine Feuilleton-Debatte, denn es waren Regisseure und Theaterleiter, jüngere und ältere, die nun mit der wiedererweckten Frankfurter "Experimenta" ihr eigenes Forum gegründet haben: ein trotziges Trost-Theatertreffen unter Freunden. Sie fühlen sich von der Jury des Berliner Theatertreffens ignoriert, wollen Stärke und Selbstbewusstsein demonstrieren, und das mag auch nötig sein. Weil sich mit "Experimenten" und Banden-Bildung große Bühnen wie das Hamburger Schauspielhaus, das Basler Theater und womöglich auch die Berliner Schaubühne nicht flottmachen lassen.

Wenn morgen, am 1. Mai, gleich zwei deutschsprachige Bühnenfestivals beginnen, dann bedeutet dies: Die "Todesflaute" an den Bühnen, von der viel die Rede war, scheint überwunden, wenn auch nicht überall. München und Frankfurt warten auf neue Kapitäne, in Zürich und Hannover ist das Spiel noch nicht gewonnen.

Die traditionellen Schauspielhäuser gleichen Schiffen - schweren Tankern oder wendigen Kreuzern, das hängt auch von der Großwetterlage ab. Und die scheint im Augenblick günstig. Christoph Marthaler, der neue Steuermann am Zürichsee, hat "Was ihr wollt" als maritim-melancholisches Flaschendrehen in Szene gesetzt. Der Schiffskasino-Shakespeare wird zum Gastspiel am Berliner Ensemble andocken. Am Schiffbauerdamm lässt sich Anna Viebrocks bugartige Bühne besser einpassen als im neuen Haus der Berliner Festspiele, das wie früher das Zentrum des Theatertreffens ist. Die Wiedergewinnung der Freien Volksbühne könnte das dialektisch-paradoxe Motto abgeben: Vorwärts durch Restauration?!

Zu den Überraschungen der diesjährigen Auswahl gehört Claus Peymanns "Richard II.", der zweite Shakespeare im Programm. Die Aufführung des Berliner Ensembles hat etwas Gestrig-Altmeisterliches, trotz des mitreißenden Michael Maertens in der Titelrolle. Dagegen honoriert die zweite Berliner Nominierung, Frank Castorfs "Endstation Amerika", die stärkste Volksbühnen-Vorstellung seit langem. Mit zwei Inszenierungen, dem "Fest" aus Dresden und "Liliom" vom Hamburger Thalia Theater, stellt sich Theatertreffen-Neuling Michael Thalheimer vor. Preisfrage: Gehört der Enddreißiger zu den alten oder den jungen Regisseuren?

Das Stück des Jahres, auch ein See-Stück, ist "Die Möwe" von Anton Tschechow. Vor 100 Jahren hat der russische Dramatiker die Fragen aufgeworfen, um die es heute noch geht. Welches Theater sollen wir spielen? Gibt es einen Weg zwischen Experiment und Establishment? Und wie kann man auf diesem Weg nicht Herz und Verstand verlieren? Tschechow umspielt die Antwort. Er beobachtet: Einer der Größten des Welttheaters - ein begnadeter Zuschauer.

Vogelschau in die Zukunft

Mit einem wunderbaren Star-Ensemble, mit Jutta Lampe, Gert Voss, Ignaz Kirchner, Johanna Wokalek, August Diehl, kommt die Wiener "Möwe" nach Berlin. Luc Bondys Inszenierung aus dem Akademietheater der Burg leitete im vergangenen Mai den Wiener Triumphzug ein. Das Burgtheater des neuen Direktors (und Peymann-Nachfolgers) Klaus Bachler stellt alleine vier der zehn ausgewählten Aufführungen. Und Wien eröffnet morgen das Festival mit "Glaube und Heimat", Karl Schönherrs neu entdeckter Blut-und-Bauerntragödie in der Regie von Martin Kusej. Luc Bondys zweiter Wiener Geniestreich heißt "Drei Mal Leben", die Akademietheater-Uraufführung des Yasmina Reza-Stücks - mit Susanne Lothar, Andrea Clausen und Ulrich Mühe.

Das 38. Berliner Theatertreffen wird ein Schauspielerfest. Ein Wiedersehen mit Akteuren, die in Berlin nicht mehr zu Hause sind - und die, wundersamerweise, in Wien brillanter hervortreten als zuletzt hier. Von einem ideologisch-ästhetischen Roll-Back, wie zuweilen behauptet, keine Spur. Das Aufreizend-Erregende, auch Irritierende der Wiener "Möwe" liegt darin, dass Tschechows Kampf von Jung und Alt nicht in plumper Konfrontation, sondern im melodramatisch-komischen Nebeneinander aus- und aufgeht. Plötzlich sitzt man in einer Klassikeraufführung und bemerkt, wie unendlich angenehm es ist, wenn der ganze dramaturgisch-feuilletonistische Ballast von "Aktualität" und "Pop" und "Biedermeier" über Bord geht und sich das Allermenschlichste ereignet: Theater.

Zeitlosigkeit - die gibt es im Theater nicht. Aber Theater vermag die Zeit anzuhalten, für zwei, drei, vier Stunden. Es gehört zu den Versäumnissen der Jury, Stefan Puchers Hamburger "Möwe" nicht eingeladen zu haben. Pucher, der nun zur "Experimenta" fährt, traktiert Tschechow mit Mikrofonen und Videoclips, seine Schauspieler agieren wie Sprechautomaten. Und doch: Auch diese "Möwe" lädt ein zu einer optimistischen Vogelschau über die Zukunft des Theaters.

Warum aber reagieren viele jüngere Theatermacher derart verdrossen, da die vermeintlichen Altmeister reüssieren? So rebellisch können sie nicht sein, wenn sie sich wegen Nicht-Berücksichtigung beim oftmals tot gesagten Theatertreffen grämen. Und sie können sich vor Angeboten kaum retten. Anders als vor 10 Jahren stehen die Türen weit offen, in Hamburg, Hannover, Frankfurt, Basel, Berlin und Wien. Ist diese karrieretechnische Leichtigkeit ermüdend, gar entmutigend, und fehlen in Wahrheit die Gegner? Spürt manch einer, dass reine Pop- und Performance-Konzepte sich schnell selbst erledigen? Wenn es ein Pop-Theater gibt, dann gibt es auch eine Hitparade der Regisseure und Stückeschreiber, große Hektik und massiven Verschleiß. Wer morgens in einer Off-Bude eine halbwegs originelle Talentprobe abliefert, findet sich abends an einer großen Bühne wieder. Wie die Buchbranche, so giert auch der Theaterbetrieb nach Frischfleisch. Die Qual des "zweiten Buchs", nach dem Durchbruch mit dem Erstling, ist sprichwörtlich.

Vollendet schöne und zugleich phantasievoll-luftige Aufführungen wie Bondys "Möwe" und Peter Zadeks "Rosmersholm" stehen scheinbar wie Solitäre in der Landschaft. In Wahrheit verdanken sich solche "Glücksfälle" (Jury-Sprecher Peter Iden) einer vielerorts erkennbaren Aufbruchsstimmung. Theater ist wieder interessant. Der älteste Regisseur des Theatertreffens ist paradoxerweise auch der "jüngste": Peter Zadek. Er feiert am 19. Mai in Wien seinen 75. Geburtstag. An diesem Tag hat dort am Akademietheater Klaus Michael Grüber mit "Roberto Zucco" von Bernard-Marie Koltès Premiere; noch ein alter Berliner Meister.

Die Überquerung der Schattenlinie

Peter Zadek ist der Theaterkünstler, der die Schattenlinie schon oft überquert hat, in beiden Richtungen. Sein Wiener "Rosmersholm", mit Angela Winkler und Gert Voss, darf man getrost als Höhepunkt dieser Spielzeit feiern. Noch entspannter, noch unverschämter und fast noch virtuoser als Bondy schafft Zadek eine Theaterwelt, ein Welt-Theater, das so gut in Ibsens 19. Jahrhundert steht wie in unserer Zeit und irgendwie nicht mehr von diesem Planeten ist. Und nächste Woche hat derselbe Regisseur an den Hamburger Kammerspielen Premiere mit einem kleinen, brutalen, neuen britischen Mörder-Stück, Neil LaButes "Bash". Am gleichen Ort inszenierte er vor ein paar Jahren Sarah Kanes "Gesäubert", als die früh verstorbene Londoner Dramatikerin auf deutschen Bühnen noch nicht durchgesetzt war.

Immer schon gab es den "Baracken-Zadek" und den Burgtheater-Zadek. Und den Pop-Zadek sowieso - damals, bei Kurt Hübner in Bremen, wo der junge Peter Stein mit seinem "Tasso" einst ein neues Klassiker-Verständnis initiierte. Die "Schattenlinie" lässt sich nicht umgehen, aber man kann sie lange hinausschieben und ewige Jugend ausrufen. Dann droht wieder große Flaute.

Rüdiger Schaper

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