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450 Jahre William Shakespeare: In der Unruhe liegt die Kraft

Wer immer Shakespeare auch war: Mit dem Dramatiker feiert sich die moderne Welt seit 450 Jahren selbst.

Das Shakespeare Commemoration Committee der British Academy war spät dran. Groß und gewaltig wollten die Engländer den 350. Geburtstag des Dramatikers am 26. April 1914 feiern, doch die Vorbereitungen zogen sich bis den Sommer hin. Dann kam der Krieg, der Erste Weltkrieg, und der Traum von einer weltumspannenden „Bruderschaft“ des Theaters und der Poesie löste sich im Angesicht „ernsterer Pflichten“ auf, wie es damals, vor gut hundert Jahren, in noblem Understatement hieß.

Ein aufschlussreiches Missverständnis steckt in dieser Geschichte: Denn wer, wenn nicht Shakespeare und seine Zeitgenossen, hat die Grausamkeiten des Krieges explizit auf die Bühne gebracht? Wer sonst hat Mord und Folter, Heimtücke und Sadismus Namen und Gesicht gegeben, von den Metzeleien des „Macbeth“ über das serielle Töten in den Königsdramen bis zu den „Natural Born Killers“ im „Titus Andronicus“? Frieden, das ist bei diesem Theatermann und in der Kunst überhaupt ein vorübergehender Zustand – er langweilt das Publikum.

2014, zur 450-Jahrfeier, wird zumal in London ein Shakespeare-Fass aufgemacht. Vorstellungen der Royal Shakespeare Company sind per live streaming rund um den Globus zu sehen. Wer immer der Mann war, der am 26. April in Stratford-upon-Avon geboren wurde, wer immer auch als Shakespeare das Theater auf alle Zeit verändert hat: Wir sind mit ihm nicht fertig. So viele Rätsel und Widersprüche ranken sich, ein undurchdringliches Gestrüpp, um die Person, dass ein solches Geburtstagsjubiläum wie eine Hilfskonstruktion wirkt. Shakespeare wird ohnehin immer unter den meistgespielten Dramatikern dieses Planeten bleiben. Er ist nicht bloß ein Kontinent, sondern eine Kontinentalverschiebung, von Anfang an. Und was wir da feiern, ist nichts anderes als unsere eigene, sich wiederholende Geschichte des Aufbruchs, der Verwirrung, der Globalisierung, die in Schüben kommt.

William S. lebte und arbeitete in einem epochalen Schub. Anno 1580 umsegelte Sir Francis Drake die Welt. Der, den wir Shakespeare nennen, war da sechzehn – ebenso alt wie Galileo Galilei, sein Pendant in der Physik, beide geboren in ein Zeitalter grundstürzender Entdeckungen und Veränderungen. Der Globus wurde für das junge British Empire zum Schauplatz nie gekannter Warenströme und Begegnungen. Verlässliche Weltkarten wurden gezeichnet und benutzt. Die Wirtschaft boomte, Aktiengesellschaften und Kolonien entstanden. Ureinwohner überall mussten erfahren, was Entfremdung und Entrechtung ist. Weltbilder zerbrachen wie Glas. Ein altes Medium wurde neu erfunden und modifiziert: das öffentliche Theater in der Großstadt.

Auf einem Gemälde um das Jahr 1600 thront Queen Elizabeth I. – die auch immer mal wieder als heimliche Autorin von Shakespeare-Stücken gehandelt wurde – mit einer Hand auf dem Welt-Spielball, im Hintergrund die Schiffe ihrer siegreichen Kriegsflotte, die Spaniens Armada geschlagen hat. Das britische Kriegstheater war eben in vielen Belangen besser, moderner als das spanisch-katholische.

Neil MacGregor, Direktor des British Museum, beschreibt in einem wunderbaren neuen Buch „Shakespeares ruhelose Welt. Eine Geschichte in 20 Objekten“ (Verlag C. H. Beck, 347 Seiten, 29,95 Euro) diese Zeit, die uns sehr nah sein müsste. Er beginnt mit Apollo 8, dem ersten bemannten Raumschiff, das 1968 den Mond umkreiste und der Menschheit aus dem All ein unauslöschliches Bild ihres blauen Planeten lieferte. Eine solche visuelle, wissenschaftliche Revolution, sagt MacGregor, hat auch die Shakespeare-Zeit erlebt, und sie hat sich in den Dramen Shakespeares niedergeschlagen, in seinem Globe Theatre. Im „Sommernachtstraum“ sagt Puck: „Rund um die Erde zieh’ ich einen Gürtel/In viermal zehn Minuten“, und in der „Komödie der Irrungen“ wird eine dicke Küchenfrau von zwei Schnöseln wie eine Erdkugel abgetastet und geil kartografiert, mit der fiesen Pointe: „Wo liegen Belgien und die Niederlande? – Oh Herr, so tief habe ich nicht nachgesucht.“

MacGregors Buch der „Ruhelosen Welt“ ist der Nachfolger seines dicken Bestsellers „Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten“ und liefert den Beweis, dass man ein Buch über Shakespeare schreiben kann, ja vielleicht sogar in diesem Fall schreiben muss, ohne näher auf Theatergeschichte einzugehen. Denn es geht hier um das große Ganze: um eine Zeit und einen Dramatiker, der die dynamische Welt und Weltvorstellung seiner Zeitgenossen in Sprache und Handlung zu fassen vermochte.

Damals schon galt: „Die Zeit ist aus den Fugen“, wie Hamlet sagt. Das reflektierte, moderne Individuum, das der Dänenprinz par excellence darstellt, kennt also das Gefühl schon eine ganze Weile: dieses allein auf sich gestellte Sein, die Suche nach einem möglichen Leben im falschen, in der Orientierungslosigkeit. Das berühmte „Böhmen am Meer“ lässt sich nicht nur als genialische Schlamperei lesen, sondern ebenso als Feststellung globalisierter Geografie und Gleichzeitigkeit. Und als Ausweis dichterischer Allmacht.

Shakespeare funktioniert wie eine Zeitmaschine. In beide Richtungen: Er handelt von einer Gegenwart, die von Zukunftsaussichten überwältigt ist, und er bedient sich alter Quellen, plündert britische Geschichte, die antike griechische und römische Welt, das Mittelalter und die Renaissance, Märchen und Mythologie. Shakespeares Dramen fallen nicht vom Himmel, sie haben lange Reisen hinter sich. „Hamlet“ hat dänische Wurzeln im 12. Jahrhundert, „König Lear“ entspringt altenglischen Chroniken. Und „Romeo und Julia“ (1595/96) basiert auf dem gut dreißig Jahre älteren Epos eines Landsmannes, der sich wiederum bei französischen und italienischen Vorgängern bedient haben dürfte.

So modern Shakespeare auch immer sein mag, der Begriff Copyright existierte nicht in seiner Welt; er selbst ist von Buchdruckern bestohlen worden. Vor den Bootlegs der Rockgeschichte gab es die Booklegs, das betraf vor allem Shakespeares Sonette, wie Clinton Heylin in seinem Buch „So Long As Men Can Breathe“ eindrucksvoll schildert. Im Grunde verhielten sich Drucker, Theaterleute und Autoren damals so, als hätten sie Internet zur Verfügung. Ohne Copy/Paste hätte es keinen Shakespeare, kein Globe Theater gegeben.

Geschichten verändern sich, wenn sie reisen. Sie finden zu sich selbst, wenn das Ziel ein Dichter und Bühnenpraktiker wie Shakespeare ist. Das Drama von Romeo und Julia stammt höchstwahrscheinlich aus Norditalien, aber nicht aus Verona – wo es dank Shakespeare nun für alle Zeit seine Heimat hat, in der Casa di Guiletta; der Balkon wurde später angebaut. Oder seinen Hauptwohnsitz: Baz Luhrmans Pop-Film „Romeo & Juliet“ (1996) mit Leonardo DiCaprio und Claire Danes wurde in Mexiko und Miami gedreht und spielte an einem fiktiven Verona Beach. Jerome Robbins, Leonard Bernstein und Stephen Sondheim waren konkreter: Ihre Version des jugendlichen Liebesdramas war keine Konfrontation adliger Familien, sie lokalisierten ihre „West Side Story“ im Manhattan der 1950er Jahre in einem Bandenkrieg unter Einwanderern. „I like to be in America“: Die sozial Schwachen murksen sich gegenseitig ab. Die Komische Oper Berlin hat mit der „West Side Story“-Inszenierung von Barrie Kosky derzeit einen Publikumsrenner, während Lars Eidingers „Romeo und Julia“ an der Schaubühne jetzt nicht auf dem Spielplan steht. Beide Aufführungen zeigen, dass dieses Stück (und dieser Stoff) nicht alt werden können. Die wohl älteste Kinoversion von „Romeo and Juliet“ entstand 1911 in New York: Die Liebenden kamen aus verfeindeten Indianerstämmen.

Shakespeares Figuren „fangen für uns die Quintessenz dessen ein, was es heißt, ruhelos Mensch zu sein in einer unentwegt ruhelosen Welt“, lautet Neil McGregors Fazit. Der Witz ist: Shakespeares Stücke wirken wie Ruhepole und Publikumsmagneten auf jedem Spielplan; Thomas Ostermeiers „Hamlet“ an der Schaubühne mit Lars Eidinger gibt dafür in Berlin das auffälligste Beispiel. Doch enthalten die Spielplananker eben auch die größte Menge Explosivstoff. Diese Dialektik löst sich schnell auf. Denn das „ruhelos Mensch sein in ruheloser Welt“ liegt im Wesen des Theaters selbst. Es ist die Quintessenz des Theaters.

Die New Yorker hatten vor hundert Jahren mit ihren Shakespeare-Feierlichkeiten übrigens mehr Erfolg als die Briten. Im Mai 1914 versammelten sich Zehntausende in einem Sportstadion, um Paraden, Tänze, Tableaux Vivants von Profis und Laien zu bestaunen. Der aus Ungarn stammende Entfesselungskünstler Harry Houdini vollführte das tollste Stück: Über der Baugrube einer U-Bahnstation in der Luft hängend, befreite er sich aus einer Zwangsjacke. Was uns auf die Idee bringt, dass die Theaterleute jetzt und hier das mal nachmachen sollten: sich aus der Beengung und Bekümmerung befreien, spektakulär.

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