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Mut der Verzweifelten. Am 21. August 1968 werfen Prager Demonstranten Steine auf sowjetische Panzer.

© picture alliance / dpa

"Prager Frühling": Der Frühling, der niemals endet

Im Jahr ‘68 walzten Panzer in der damaligen Tschechoslowakei den Traum vom Sozialismus mit menschlichem Antlitz nieder. Zum Jubiläum streiten in Prag die Politiker - und bei den Jüngeren verblasst die Erinnerung.

In der Geschichte von Nationen scheint es so etwas wie Schicksalsdaten zu geben. In Deutschland sind auffällig viele historische Ereignisse mit dem 9. November verbunden, und für die Tschechen wiederum sind Jahre mit der acht am Ende von besonderer Bedeutung. Vor hundert Jahren, im Oktober 1918 wurde die Tschechoslowakei gegründet. 1938 verlor sie nach dem Münchner Abkommen ein Viertel ihres Territoriums an die deutschen Besatzer. 1948 übernahm die Kommunistische Partei in einem faktischen Staatsstreich die gesamte Macht im Staate. 1968 war schließlich das Jahr des „Prager Frühlings“ und des Einmarsches des Warschauer Paktes.

In der Nacht auf den 21. August 1968 waren rund 500 000 Soldaten aus den „sozialistischen Bruderländern“ in die Tschechoslowakei einmarschiert, um dem Traum von einem freiheitlichen, demokratischen Sozialismus mit Gewalt ein Ende zu machen. Der 50. Jahrestag der Demütigung einer Nation geht beinahe unter in diesem tschechischen „Super-Geschichtsjahr“. Überstrahlt wird das Jubiläum eindeutig von der Erinnerung an das Jahr 1918, die im Herbst ihren Höhepunkt erreicht.

Präsident Zeman will nicht reden

Gäbe nicht eine Reihe von Ausstellungen mit Fotografien, aus der die Schau von Josef Koudelka in der Nationalgalerie herausragt, und gäbe es nicht den tschechischen Rundfunk, der an diesem Dienstag dem Gedenken an den Prager Frühling 13 Stunden Sendezeit widmet, man müsste beinahe von einer Erinnerungsverweigerung sprechen. An deren Spitze steht der erratische Staatspräsident Milos Zeman, der nicht reden mag. Die Kritik von Oppositionspolitikern blockte sein Sprecher mit den Worten ab, Zeman sei vor 50 Jahren mutig gewesen, das sei wertvoller als heute alle Reden. Zeman ist zwei Jahre nach dem Prager Frühling wegen Kritik am Einmarsch aus der Kommunistischen Partei ausgeschlossen worden.

In der Tradition des Jahres 1968 steht er aber tatsächlich nicht. Vielmehr unterstellen ihm Kritiker jetzt, sein Schweigen hänge mit Zemans Sympathien für den russischen Präsidenten Wladimir Putin zusammen, den er nicht verärgern wolle. Das Präsidentenbüro weist dies zurück: „Die Okkupation war ein Verbrechen. Die Meinung des Präsidenten zu den Ereignissen bleibt unverändert.“

Reden sollte zum Jahrestag der Premierminister Andrej Babis. Auch ihn, den slowakischen Ex-Kommunisten, der in sozialistischen Zeiten mutmaßlich für den Geheimdienst StB gearbeitet und der nach der Wende ein Milliardenvermögen gemacht hat, verbindet gar nichts mit 1968. Die Parteien wiederum, die nach der Wende an die nicht kommunistische Tradition des Reformjahres anknüpften, sind heute im politischen Leben Tschechiens praktisch marginalisiert.

Sozialismus ohne menschliches Antlitz

Und die Kommunistische Partei, einst Träger der Idee von einem Sozialismus mit menschlichem Antlitz, hat nie wieder versucht, an die Reformer anzuknüpfen. Auch nicht nach 1989, wo dies gefahrlos möglich gewesen wäre. Die KPTsch ist heute eine zutiefst stalinistische Gruppierung. Ihr Vorsitzender, Vojtech Filip, lieferte die skurrilste Interpretation der Ereignisse. Die Geschichtserzählung sei „zu einhundert Prozent gefälscht“, sagte er dem Londoner „Guardian“. Es gehe allein um antirussische Positionierungen. „Im sowjetischen Politbüro war zu jener Zeit ein einziger Russe, und der hat gegen die Invasion gestimmt. Breschnew kam aus der Ukraine, und der Hauptteil der Invasionstruppen waren Ukrainer.“

Der – seriöse – Streit um die Interpretation des Prager Frühlings habe schon im Jahr 1968 begonnen, schreibt der Münchner Historiker Martin Schulze Wessel in seiner bei Reclam erschienenen großartigen Gesamtschau. In der Weihnachtsausgabe der Literaturzeitschrt „Listy“ („Blätter“) erschien damals Milan Kunderas Artikel „Das tschechische Schicksal“. Darin behauptete der Schriftsteller pathetisch, dass „es auf der Welt kein Volk gibt, dass eine vergleichbare Prüfung ähnlich wie wir bestanden und so viel Festigkeit, Verstand und Einheit beweisen hat“. Diese gewaltige Überhöhung wies Vaclav Havel kurz darauf grundsätzlich und verletzend zurück: als lächerlichen provinziellen Messianismus. Schließlich sei es doch „nur“ um Meinungsfreiheit und ein Ende der Willkür der Geheimpolizei gegangen.

„Die ,Samtene Revolution’ von 1989 knüpfte nicht an den Prager Frühling an, eine Synthese von Demokratie und Sozialismus zu finden“, schreibt Wessel in seinem Buch. Buchstäblich zu spüren bekam das der Schriftsteller Ludvik Vaculik, wie er zwei Jahrzehnte später in einem Gespräch im legendären Café „Slavia“ erzählte. Vaculik hatte einen der entscheidenden Texte des Prager Frühlings verfasst, das „Manifest der 2000 Worte“. Darin wurde das Ende des kommunistischen Machtmonopols gefordert, was für die Moskauer Führung das Fass zum Überlaufen brachte und die Entscheidung zum Einmarsch herbeiführte.

Rückzug ins Häuschen mit Garten

Herbst 1989 nun versuchte Vaculik, auf die Tribüne am Wenzelsplatz zu gelangen, auf der mit Alexander Dubcek und Vaclav Havel zwei Protagonisten des Jahres 1968 standen. Vergeblich. Der Name Vaculik sagte den Pragern schon damals gar nichts mehr. Er zog sich enttäuscht wieder auf seine Chata, das Haus mit Gärtchen vor der Stadt, zurück. Vor drei Jahren ist Vaculik gestorben.

Auch daran liegt es, dass die Vergangenheit an 1968 verblasst: die Generation der Zeitzeugen verschwindet von der Bühne. Die tschechischen Schulen tun faktisch nichts, um den Prager Frühling in der Erinnerung zu halten. Erschreckend sind die Ergebnisse einer Umfrage, die die Organisation Post Bellum im Frühsommer unter 18- bis 65-Jährigen durchführte. Rund die Hälfte der Befragten konnte mit dem Prager Frühling nicht mehr viel anfangen. Ein Viertel konnte gar nicht mehr sagen, was vor der Invasion gewesen war.

Zum 100. Jahrestag der Staatsgründung wird im Oktober das Nationalmuseum am Wenzelsplatz nach aufwendiger Rekonstruktion wiedereröffnet. Die Verhüllung an dessen Fassade fällt schon an diesem Dienstag. Die Einschusslöcher, die russische Soldaten mit ihren Kalaschnikows im Sommer 1968 hinterlassen haben, werden dann nicht mehr zu sehen sein. Sie sind zum Entsetzen der Denkmalschützer wegrenoviert worden.

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