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Kultur: 7. Architekturbiennale von Venedig: Der Schwarzplan bringt es an den Tag

Es steht nicht gut um die Architektur der fünfziger, sechziger und zunehmend auch der siebziger Jahre. Vertraute Stadtbilder lösen sich auf, "Kranzler-Eck" hier, "Ahornblatt" auf der Fischerinsel dort; in absehbarer Zeit werden wohl auch "Zentrum am Zoo" und schließlich Alexanderplatz den Weg alles Irdischen gehen.

Es steht nicht gut um die Architektur der fünfziger, sechziger und zunehmend auch der siebziger Jahre. Vertraute Stadtbilder lösen sich auf, "Kranzler-Eck" hier, "Ahornblatt" auf der Fischerinsel dort; in absehbarer Zeit werden wohl auch "Zentrum am Zoo" und schließlich Alexanderplatz den Weg alles Irdischen gehen. Marzahn und Märkisches Viertel mögen noch Jubiläen feiern - Anlass zu kommunalpolitischem Stolz indessen bieten sie schon lange nicht mehr.

Berlin ist eine einzige Geschichte im Abriss. Das ist nun allerdings keine neue Erkenntnis. Den "Abgesang auf Putte und Straße, Platz und Baum" hat Wolf Jobst Siedler bereits 1964 im Untertitel seines zum Klassiker verewigten Bildbandes "Die gemordete Stadt" angestimmt. Das hat ihn so wenig wie andere Kritiker der Abrisswut der Wirtschaftswunderjahre daran gehindert, seinerseits zum Abriss aufzurufen, wo das Stadtbild durch Neubauten beschädigt schien. Immer geht es um Wegräumen und Neubauen, einerlei, ob Neubau wirklich neue Architektur bedeutet oder nur die Beschwörung des einst Gewesenen.

Eine Bilanz dieses beständigen Umbauprozesses zu ziehen, ist das Ziel des deutschen Beitrags zur 7. Architekturbiennale von Venedig. Wenngleich unter Federführung von Senatsbaudirektor Hans Stimmann zusammengestellt, ist die Ausstellung in den Ehrfurcht gebietenden Sälen des mit dem Schriftzug "Germania" ausgewiesenen Gebäudes die Wahl des deutschen Kommissars, des renommierten Münchner Architekten Thomas Herzog. Die Unterscheidung ist insofern wichtig, als es im Vorfeld mancherlei Aufregung innerhalb des Berufsstandes gab - Stimmann, man muss es kaum erwähnen, ist schließlich seit den frühen neunziger Jahren eine exponierte Figur in der Debatte um die zeitgenössische Architektur.

Was in Venedig unter dem Titel "StadtWende. Physiognomie einer Großstadt - Berlin" präsentiert wird, ist zwar nicht die befürchtete, explizite Generalabrechnung mit der Moderne und ebensowenig ein Plädoyer für eine berlinisch-preußische Bautradition, sondern zunächst einmal trockene Statistik. Sogenannte Schwarzpläne werden gezeigt - mit blau oder rot hervorgehobenen Partien -, Pläne also, die die bloße Grundfläche von Bauten innerhalb des Stadtplanes markieren. Sie erlauben einen schnellen Überblick über das Ausmaß der Bebauung, jedoch keinerlei Aussage über deren Spezifika. Dabei beschränken sich die Planausschnitte auf das Gebiet zwischen Savignyplatz im Westen und Frankfurter Allee im Osten, umgreifen also die beiden Stadtzentren Berlins, wie sie sich bereits zwischen den Kriegen herausgebildet haben.

Und das soll strittig sein? Die Antwort lautet: ja. Denn die generalisierenden Aussagen, die unter Verweis auf solche Schwarzpläne möglich sind, nehmen unterschwellig eine denunziatorische Färbung an. Wenn also an Hand der Zeitschnitte 1940, 1953, 1989, 2000 und 2010 gezeigt wird, wieviel die Stadt an Substanz verloren hat und was ihr stattdessen hinzugefügt worden ist, so addieren sich schon die von Stichjahr zu Stichjahr vorgenommenen Veränderungen zur erschreckenden Bilanz einer beinahe vollständigen "Auswechslung" des Stadtbildes. In Stimmanns Eröffnungsworten: Es sei "unglaublich", dass ein Gebiet von immerhin 30 Quadratkilometern Fläche innerhalb von fünfzig Jahren "komplett abgerissen und neu aufgebaut wurde." Die Verantwortung für diesen Umgang trägt - so der unausgesprochene, aber unmissverständliche Vorwurf - "die" Moderne, deren städtebauliches Leitbild zugleich ein Feindbild ist, nämlich das der überkommenen, als menschenverachtend gebrandmarkten Stadt des 19. Jahrhunderts.

In durchaus suggestiver Absicht hält der deutsche Beitrag denn auch im Nebensaal des Pavillons Fotofolgen bereit, die jeweils einen Standort durch die wechselhafte Stadtgeschichte hindurch vorstellen. Zunächst zeigt eine Ansicht aus der Vorkriegs- oder der Entstehungszeit den Ursprungszustand: stattlich, ansehnlich und intakt. Dann kommt eine Ansicht aus den unmittelbaren Nachkriegsjahren, die belegt, wieviel an Substanz trotz schwerster Bombenschäden noch vorhanden war. Die dritte Ansicht schließlich - sie mag von heute sein oder auch bereits aus den Wiederaufbaujahren nach 1955 - zeigt in aller Regel ein völlig anderes, neu errichtetes Gebäude in einer bis zur Unkenntlichkeit veränderten Straße. Wenige, sehr wenige Beispiele wie das Prinzessinnenpalais nahe Unter den Linden, das die DDR, und der Gropius-Bau, den der West-Berliner Senat wiedererrichten ließen, belegen Heilungsprozesse der beschädigten Stadt. Solche Heilungen sind ansonsten von Politik und Fachwelt nicht nur nicht gesucht, sondern vielmehr mit Entschiedenheit bekämpft und unterbunden worden, im Westen wie im Osten.

Auf diese Weise wird nahe gelegt, dass nicht der Krieg der "große Zerstörer" war, sondern das west-östliche, der internationalen Moderne verpflichtete Leitbild des Nachkriegsstädtebaus. Darin liegt die Brisanz der deutschen Präsentation in Venedig. Vor der Kulisse der seit 200 Jahren in ihrem Erscheinungsbild kaum mehr veränderten Lagunenstadt lässt sich die Berliner Baugeschichte nur noch als pathologische Verneinung der "europäischen Stadt" deuten, wie sie die in diesem Punkt einige Phalanx aus Verfechtern der "kritischen Rekonstruktion" bis hin zu ausgesprochenen Traditionalisten immer wieder beschwört.

Wenn nun aber im anderen Seitensaal des deutschen Pavillons eine monumentale Vergrößerung des Stimmannschen "Planwerks" zu besichtigen ist, wird der legitimatorische Charakter des venezianischen Beitrags offenkundig. Nach all den Wunden, die eine geschichtsvergessene Stadtplanung dem vormals intakten Organismus geschlagen hat, verspricht allein das Planwerk mit seinen "Rückbau"-Maßnahmen Aussicht auf Heilung. Brachflächen verschwinden, Verkehrsschneisen verlieren ihren Schrecken, Plätze gewinnen menschliches Maß zurück: Anders ist die Botschaft gar nicht zu verstehen, die die auf den ersten Blick so spröden, ja pedantischen Pläne und Dokumentationen dem internationalen Publikum in den heiteren Giardini zurufen.

Was völlig unterbleibt, ist die notwendige qualitative Differenzierung. Welche Straßenräume wurden geschaffen, was wurde gebaut, welchen Bedürfnissen Rechnung getragen? Die Stadt an der Schwelle des 21. Jahrhunderts kann nicht mehr die des ausgehenden 19. Jahrhunderts sein. Die unausweichlichen, von den gewandelten Wünschen der Bewohner und ihrer unvergleichlich gewachsenen Kaufkraft diktierten Veränderungen kann kein Schwarzplan erfassen. Und selbst, wenn zwei das gleiche tun, ist es nicht dasselbe: So wurde die Entkernung der düsteren Berliner Hinterhöfe lange Zeit zu Recht als Alternative zur "Flächensanierung" gepriesen. Nur so bekamen die Vorderhäuser "Luft". Derzeit aber wird vor allem in Mitte munter in verwunschene Hinterhofgrundstücke hineingebaut: elegante Wohnungen und großzügige Lofts für den aufstrebenden Dienstleistungssektor, alles unter dem Banner der "Revitalisierung". Und auch dies ist richtig, weil kostbare Innenstadt aufgewertet wird. Was soll ein schlichter Schwarzplan darüber aussagen?

Der deutsche, tatsächlich aber dem Berliner "Architekturstreit" von 1992/94 entsprungene Beitrag zur 7. Architekturbiennale ist ein problematisch Ding. So notwendig die Dokumentation einer fortdauernden Zerstörungswut auch ist, so sehr entgleitet sie ohne qualitiative Korrektur in bloße Polemik. Im übrigen gehen die Abrisse auch im Zeichen des "Planwerks" und mit dem Segen seiner der Nachkriegsmoderne zürnenden Verfechter weiter. Und auch das hat fallweise seine Berechtigung, soll die Stadt von den Entstellungen durch Autoschneisen und Punkthochhäuser irgendwann einmal genesen können.

Für Venedig mag schlichtes Schwarz-Weiß gewollt gewesen sein. In Berlin, wo die Ausstellung aller Wahrscheinlichkeit nach erneut vorgeführt werden wird, muss eine differenziertere Auseinandersetzung folgen. Man darf gespannt sein, ob die Verfechter der gegensätzlichen Positionen dazu überhaupt willens sind.

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