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Gesichter ohne Angst. Die Skulptur von Ingeborg Hunzinger erinnert seit 1995 an den Rosenstraßen-Protest.

© mauritius images

75 Jahre Proteste in der Rosenstraße: Wie man Mörder stoppt

Vor 75 Jahren in Berlin: der beispielhafte Kampf der Frauen in der Rosenstraße. Sie retteten ihre jüdischen Männer vor Deportation und Vernichtung.

Über eine Woche lang protestieren hunderte nicht-jüdische Frauen in der Rosenstraße in Berlin. Sie kämpfen um ihre jüdischen Männer, trotzen den Befehlen der Polizei: „Räumen Sie die Straße oder wir schießen.“ Es war vor 75 Jahren, im Februar und März 1943, ein ungleicher Kampf von biblischen Dimensionen. Mit ihrem gewagten Eintreten retteten die Frauen zweitausend Juden aus den Klauen des Nazi-Völkermordes, als Hitler nachgab.

In unserem neuen autokratischen Zeitalter, in dem wir, von Wonder Woman bis zu Spider-Man, überfüttert werden mit fantastischen Superhelden, können diese Frauen ein Vorbild sein. Diese Ehepaare lehren uns, dass jeder versuchen muss, etwas zu verändern, und dass wir manchmal tatsächlich etwas ändern, wenn wir uns mit unserer ganzen Existenz engagieren. Wir lernen daraus Zivilcourage und moralische Integrität. Die Frauen, die sich trotz Todesdrohungen zum Protest entschlossen, verpflichten uns, in unserer behaglichen Existenz aufzustehen gegen autoritäre Übergriffigkeit.

Das Regime musste improvisieren

Tag für Tag, Schritt für Schritt arrangierten sich viele Deutsche damals mit dem Regime. Ihre Widerstandskräfte schwanden, und es fiel immer schwerer, sich klar abzugrenzen. Nicht so diese Frauen. Zehn Jahre des bitteren Kampfes gegen Hitlers nicht enden wollenden Druck, ihre Familien zu zerstören, hatten die Ausdauer und den Widerstand der Frauen in der Rosenstraße gestärkt. Ihre Geschichte von erlittener Demütigung und Bloßstellung und einer auf die äußerste Probe gestellten Menschlichkeit nötigt Respekt ab.

In Holocaust-Gedenkstätten in Deutschland und den Vereinigten Staaten wird behauptet, dass das Nazi-Regime seine Pläne ohne Rücksicht auf die Reaktionen aus dem Volk ausführte und dass es zum damaligen Zeitpunkt nicht beabsichtigte, auch nur einen einzigen in Mischehe lebenden Juden zu deportieren. Nach dieser Einschätzung sollte ein Teil der Juden aus der Rosenstraße gemäß einem Plan der Gestapo zur Arbeit herangezogen und nicht in den Tod geschickt werden. Wahrscheinlich aber war dieser Arbeitseinsatz eine improvisierte Reaktion auf den Protest der Frauen. Das kann nicht als Beweis für die Existenz eines entsprechenden Planes dienen.

Es gibt aber solide Anhaltspunkte dafür, dass die in der Rosenstraße festgehaltenen Juden auf Züge verfrachtet und zur Vernichtung nach Osten deportiert werden sollten, ebenso wie die anderen 8000 Berliner Juden, die zur gleichen Zeit verhaftet worden waren. Wer kann Zweifel daran hegen, dass Hitler und seine Schergen Deutschland so rasch wie möglich von allen Juden befreien wollten?

Mischehen waren besonders verhasst

Den Nazis waren die in Mischehe lebenden Juden ein besonderer Dorn im Auge, denn sie begingen der Ideologie des Regimes zufolge täglich „Rassenschande“. Wie jedoch lässt sich der Umstand erklären, dass in Mischehe lebende Juden, die den gelben Stern trugen, selbst noch 1943 im Deutschen Reich leben durften? 98 Prozent der deutschen Juden, die den Krieg überlebten, lebten in Mischehen. Diese erstaunliche Statistik lässt sich nur erklären durch den trotzigen Widerstand der in Mischehe lebenden Paare, vor allem durch ihren Protest in der Rosenstraße.

Hitler billigte eine Reihe von Ausnahmen für deutsche Juden, die mit Nichtjuden verheiratet waren. Im Unterschied zu den 1938 privilegierten Juden waren die „nicht-privilegierten“ mit dem Judenstern gekennzeichnet – auf ihren Häusern und ihrer Kleidung –, um schließlich das Schicksal der anderen Ermordeten zu teilen. Nach dem Erlass zur „Entjudung des Reichsgebietes“ vom 5. November 1942 entschied Heinrich Himmler, die „historische Mission“ der Nazis gegen Deutschlands Juden zum Abschluss zu bringen: selbst die in Lagern auf dem Reichsgebiet lebenden Mischlinge sollten nun deportiert werden.

Angriff auf der Straße

Die am 27. Februar 1943 beginnenden Verhaftungen, die zum Aufstand in der Rosenstraße führten, trugen ebenfalls den Codenamen „Entjudung des Reichsgebietes“. Die Berliner Juden wurden in Fabriken verhaftet, aber auch in ihren Wohnungen und auf der Straße aufgegriffen. Der nach dem Krieg geprägte Begriff „Fabrikaktion“ beschreibt das nicht genau. Tatsächlich wurden Möbelwagen, die schon von Verhafteten überquollen, immer wieder angehalten, und Gestapomänner stürmten heraus und griffen Fußgänger auf, die den gelben Stern trugen.

In Berlin war Joseph Goebbels als Gauleiter für die Aktion verantwortlich. Er notierte am 18. Februar in sein Tagebuch: „Die Juden in Berlin werden nun endgültig abgeschoben. (… )Tag für Tag bis zu 2000. (…) Ich habe mir zum Ziel gesetzt, bis Mitte, spätestens Ende März Berlin gänzlich judenfrei zu machen.“ Um sein Ziel zu erreichen, musste Goebbels jede Person, die den gelben Stern trug, abtransportieren, wie er am 18. April schrieb: „Die Judenfrage in Berlin ist immer noch nicht ganz gelöst. Entweder muss man den Judenstern nehmen und sie privilegieren oder sie im anderen Falle endgültig aus der Reichshauptstadt evakuieren.“

Die verhafteten Juden, die in Mischehe lebten, wurden in einem Sammellager in der Rosenstraße zusammengezogen. Dies legt nahe, dass die Gestapo, um Aufruhr zu vermeiden, ihre Absicht verschleierte, auch diese Juden in die Vernichtung zu deportieren. Im November 1941 hatte Hitler Goebbels entsprechend instruiert. In Mischehe lebende Juden wurden „zeitweise“ von den Deportationen ausgenommen, um öffentliche Szenen zu verhindern. Diese vorläufige Ausnahme endete mit der Vertreibung, sobald die nicht-jüdischen Ehepartner sich zur Scheidung bereit erklärten. In der Rosenstraße bekundeten die Frauen mit außergewöhnlichem Nachdruck ihre Loyalität, obwohl der eskalierende Terror jetzt ihr eigenes Leben bedrohte.

Freie Hand für Goebbels

Andere Zeugnisse belegen, dass die Nazis die in der Rosenstraße festgehaltenen Juden ebenfalls zu deportieren beabsichtigten, dabei aber Unruhen vermeiden wollten.

Nach dem Krieg sagte Goebbels’ rechte Hand, Leopold Gutterer, dass sein Chef die Juden in der Rosenstraße freigelassen und Hitlers Zustimmung drei Tage später erhalten habe. Gutterer betonte, dass dies nur eine Episode gewesen sei, in der man improvisiert habe. Goebbels schrieb am 6. März 1943 in sein Tagebuch: „Ich gebe dem SD Auftrag, die Judenevakuierung nicht ausgerechnet in einer so kritischen Zeit fortzusetzen. (…) Gewisse Stellen sind in ihren Maßnahmen politisch so unklug, dass man sie nicht zehn Minuten allein laufen lassen kann. Das Grundübel unserer Führung und vor allem unserer Verwaltung besteht darin, dass alles nach Schema F gemacht wird.“

Öffentlicher Protest stellte die Deutungshoheit des Regimes in Frage und regte zum Widerspruch an. Einige Wochen nach dem Aufstand in der Rosenstraße protestierten nach Berichten der Nazi-Polizei in Dortmund etwa drei- bis vierhundert Frauen erfolgreich gegen die Verhaftung eines Soldaten. Ihre energischen Rufe „Gebt uns unsere Männer wieder!“ wiederholten den Protestschrei der Berliner Rosenstraße.

Im Laufe der Zeit kamen renommierte Historiker zu dem Schluss, dass der Aufstand der Frauen in der Rosenstraße die Juden dort gerettet habe. Dies stand für sie nicht im Widerspruch zum Bild von Adolf Hitler als einem der skrupellosesten Diktatoren der Geschichte. Während des Historikerstreits über die Rosenstraße im Jahr 2003 schrieb ein Historiker: „Die Frage trifft ins Zentrum der Geschichtsvorstellung vom Charakter und von der Funktionsweise des Nazi-Regimes. Und sie besitzt Gewicht für das Urteil über Möglichkeiten von Widerstand überhaupt.“

Die etablierte Geschichtsschreibung zeigt, dass der Aufstand der Frauen 2000 inhaftierten Juden das Leben gerettet hat. Und doch erklären öffentliche Gedenkstätten in Deutschland und den USA heute unter Berufung auf eine einzige Quelle aus dem Jahre 2005, dass dies ein urbaner Mythos sei.

Signal gegen die Tyrannei

Heute, da die Tyrannei sich wieder einnistet, entweder schon an der Macht oder danach strebend, stehen die Frauen der Rosenstraße uns als Beispiel dafür vor Augen, was Vaclav Havel mit „Leben in der Wahrheit“ bezeichnet hat: Freiheit von den Zwängen der Institutionen und Mächte; eine Integrität, sich nicht der Masse zu fügen, wenn es nötig ist. Der Journalist Georg Zivier, der als Jude in der Rosenstraße inhaftiert war und dessen nicht-jüdische Frau zu den Protestierenden gehörte, lobte die Aktion nach dem Krieg als „eine kleine Fackel in der Dunkelheit, als Signal, das vielleicht zu einer allgemeinen Erhebung hätte führen können.“

Dass die Deutschen damals die Chance nicht ergriffen, den Protest auszuweiten, mag als eine gewisse Schuld gedeutet werden. Doch wir machen uns erneut schuldig, wenn wir die Taten der Frauen in der Rosenstraße kleinreden, statt sie gebührend zu ehren. Ein Bericht von Human Rights Watch würdigte öffentliche Proteste 2017 als ein Mittel, Gewaltherrschaft und ihre Vorläufer zu stoppen. Das sind die flackernden Kerzen von heute. Der Aufstand in der Rosenstraße vor 75 Jahren war eine Lehre. Wir sollten sie hochhalten.

Übersetzung aus dem Englischen von Michael Lahr, Programmdirektor von „Elysium – Between two continents“. Nathan Stoltzfus ist Professor für Holocaust-Studien an der Florida State University.

Nathan Stoltzfus

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