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9/11: Augenzeugen

Das zerstörte World Trade Center in Manhattan wurde zur Pilgerstätte. Wochenlang hat der Fotograf Kevin Bubriski festgehalten, wie sich die Katastrophe in den Gesichtern der Betrachter spiegelt

Was macht ein Fotograf, wenn er nicht fotografieren darf? Er dreht sich um.

Zwei Wochen nach dem 11. September 2001 war Kevin Bubriski aus seinem kleinen Städtchen in Vermont nach New York gefahren. Noch immer war Ground Zero weiträumig abgesperrt, noch immer standen Scharen von Polizisten und Nationalgardisten Wache. Auch darauf passten sie auf: dass keine Kamera auf die Ruine des World Trade Centers gehalten wurde. Diese zu fotografieren, war verboten.

Also drehte Kevin Bubriski sich um – und war überwältigt: All die Menschen, die dort standen und guckten, in deren Gesichtern sich das Unfassbare spiegelte. „Diese unglaubliche Stille.“ Es war, so erzählt der 56-Jährige, „als würde man von einer belebten Straße in eine Kirche treten“. Sobald die Leute sich dem Ort des Geschehens näherten – Touristen, Angestellte in der Mittagspause – brachen sie ihre Gespräche ab. Bubriski griff zu seiner Kamera, das war es, was er festhalten wollte: „die Reaktion der Leute auf die Tragödie“.

Gleich am nächsten Tag kehrte er zurück, lief herum, beobachtete die Menschen, stundenlang. Was er sah, war so anders als das, was ihm, in Vermont sitzend, die Medien vermittelt hatten. „Dieser intime Moment der Begegnung, der ging in der ganzen dramatischen Berichterstattung verloren.“ Und genau dieses persönliche Erlebnis wollte er dokumentieren. Wie die einen die Augen schließen, fast zu meditieren scheinen, die anderen die Hand ungläubig vor den Mund halten oder weinen. Bilder einer klassischen Tragödie.

Was man nicht sieht, auch den Gesichtern nicht ansieht: dass die Passanten in einem schrecklichem Gestank „von giftigem Material, das immer noch brannte,“ standen. Sie guckten, obwohl es nicht mehr viel zu gucken gab. Dort, wo gerade noch die Hochhäuser in den Himmel geragt hatten, war jetzt nichts mehr. Um das Nichts herum standen verwundete Nachbargebäude mit zerbrochenen Fensterscheiben, in deren Fassaden Metallstücke von den Twin Towers wie Geschosse steckten. „Die Menschen kamen wegen der emotionalen Wucht des Ortes. Es ging weniger darum, tatsächlich etwas zu sehen, als darum, Zeuge zu sein.“

In den nächsten Wochen begab sich Bubriski noch ein paar Mal auf die knapp vierstündige Fahrt von Vermont, wo er am College unterrichtet, nach New York. Gemessen an seinen sonstigen Reisen lagen die Twin Towers vor der Haustür: Der Amerikaner ist mit seiner Kamera viel in Asien unterwegs, vor allem in Nepal, wo er lange gelebt hat. Und acht Jahre lang, zwischen der ersten Inauguration von Bush und der Obamas, hat er politische Aktionen verschiedenster Art fotografiert, von Veteranen-Paraden bis zu Antikriegsdemonstrationen. „American Streets“ heißt die Serie. Der Fotograf sieht seine Aufgabe darin, „Dingen eine Stimme zu geben, die sonst unbeachtet blieben“.

Zwei Monate lang, bis kurz vor Weihnachten, hielt Bubriski am Ground Zero die andächtigen Versammlungen fest. Noch lange nach dem Attentat pilgerten die Menschen dorthin – zumindest Auswärtige, seine New Yorker Freunde, so Bubriski, haben es nicht gemacht. Er stellte auch fest, dass es keinen Unterschied machte, wie lang der Anschlag her war: weil die Menschen zum ersten Mal an den Ort kamen, „der eine unwahrscheinliche Macht auf sie ausübte“. Nie sprach er jemanden an, „das war kein Ort für Unterhaltungen“.

Wenn man sich die Bilder ansieht, scheinen ihm die Augenzeugen keine Beachtung zu schenken. In der Tat fiel er gar nicht weiter auf, so viele Kameras waren dort zu sehen, da war seine nur „ein bisschen größer und ein bisschen älter“. Da er mit einer Hasselblad arbeitete, die er auf Bauchhöhe hielt, sah er den Leuten nie direkt in die Augen. 400 Porträts hat er insgesamt aufgenommen, daraus suchte er die stärksten Bilder aus, auf denen die Menschen sich „ohne Schutzschild in ihrer ganzen menschlichen Verletzlichkeit zeigen“.

„Pilgrimage“, so nannte er das Buch, das er ein Jahr später veröffentlichte. Der schlichte Untertitel: „Looking at Ground Zero“. Normalerweise, erzählt Bubriski, braucht er fünf Jahre, um einen Verleger für ein Buchprojekt zu finden – in diesem Fall dauerte es eine Viertelstunde. Ein kommerzieller Erfolg war das Buch, das es nur noch antiquarisch gibt, nicht. Ein Jahr nach den Anschlägen wollten die Leute nicht an die traurigen Ereignisse erinnert werden, „sie wollten nach vorn gucken“.

Einige Bilder hatte Bubriski schon vorher in einer Zeitschrift veröffentlicht, die an vielen Kiosken auslag. Die Frau, die auf dem Titelbild zu sehen war ( auf unserer Seite ist das Foto unten rechts), und mit ihrer Mutter und Cousine aus Rochester im Bundesstaat New York an den Schauplatz gekommen war, rief ihn an. Als sie von ihrem Besuch in Manhattan nach Hause zurückgekehrt war, erzählte sie dem Fotografen, sei sie oft gefragt worden, wie es denn gewesen sei. Sie wusste nicht, wie sie es erklären sollte. „Als ich das Bild sah, konnte ich es ihnen zeigen. Und sie wussten genau, wie es war.“ Susanne Kippenberger

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