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Antiheld. Joe (Joaquin Phoenix) muss in „A Beautiful Day“ ein junges Mädchen (Ekaterina Samsonov) befreien.

© Constantin

„A Beautiful Day“-Regisseurin Lynne Ramsay: „Gewalt im Kino wirkt heute banal“

In Cannes gab es gleich zwei Goldene Palmen: Die Regisseurin Lynne Ramsay über ihren Thriller „A Beautiful Day“ und die Arbeit mit Joaquin Phoenix.

Von Andreas Busche

Mrs. Ramsay, die Vorlage zu „A Beautiful Day“ ist für Sie eine ungewöhnliche Wahl: ein Pulp-Thriller, nur 90 Seiten schmal.

Ich habe Noir-Erzählungen schon immer gemocht, aber Jonathan Ames’ Novelle „You Were Never Really Here“ war nur mein Ausgangspunkt. Ich wollte den Plot auf den Kopf stellen. Er ist perfekt für ein B-Movie, aber mich interessierte vor allem die Hauptfigur, die unkontrollierte Wucht, die von ihr ausgeht.

Joe, gespielt von Joaquin Phoenix, ist ein ehemaliger Elite-Soldat, der unter einer Belastungsstörung leidet. Er erhält den Auftrag, die Tochter eines US-Senators aus den Fängen eines Pädophilen-Rings zu befreien. Diese gebrochene Männlichkeit ist heute ein Stereotyp des Actionkinos.

Gleichzeitig lebt Joe mit seiner Mutter, ein Aspekt, den der Film stärker in den Mittelpunkt stellt. Er ist das Porträt eines Mannes in einer extremen Midlife-Crisis. Ursprünglich wollte ich tatsächlich einen Actionfilm machen. Als Joaquin aber mitten im Schreibprozess dazustieß, änderte sich mein Ansatz, plötzlich ging es mehr darum, wie Joe mit seinen Dämonen ringt. Ich versuche in all meinen Filmen, das Verhältnis von Bild und Sound auszuloten, um das Publikum in die Welt der Figuren hineinzuziehen. Der Film hat sich mir offenbart, je mehr ich Joe mit einer Geschichte ausfüllte.

Ihre Filme handeln von traumatischen Erlebnissen. Die Geschichten sind oft nur fragmentarisch erzählt, wie ein Erinnerungsstrom, in „A Beautiful Day“ arbeiten Sie mit asynchronen Bild- und Tonmontagen. Es geht um eine unmittelbare Gewalterfahrung. Joaquin Phoenix ist eine imposante Erscheinung, er wirkt wie ein verwundeter Bär. War diese körperliche Präsenz wichtig für die träge Energie des Films?

Ich benutzte Joaquins Bild beim Schreiben als Bildschirmschoner, darum war mir unbewusst wohl klar, dass nur er die Rolle spielen könnte. Er würde der Figur eine Verletzlichkeit verleihen; das letzte, was ich wollte, war eine Kampfmaschine. Uns kam entgegen, dass er in seinem nächsten Film Jesus spielen sollte. Er musste ohnehin gerade an Körpermasse zulegen.

Joaquin Phoenix war das letzte Puzzleteil, das Ihnen fehlte?

Ja, plötzlich ging alles ganz schnell. Da er Verpflichtungen hatte, musste der Dreh sofort beginnen. Ich hatte das Skript zwar nur halb fertig, aber die Gelegenheit, mit ihm zu drehen, konnte ich mir nicht entgehen lassen. Er dachte vermutlich, dass ich ihm aufgrund des engen Zeitrahmens absagen würde. Dass ich dennoch einwilligte, hat ihm wohl imponiert. Dabei habe ich mir fast in die Hose gemacht. Mit Joaquin an Bord mussten wir die Dreharbeiten in den Sommer verlegen. Und im Sommer ist New York ein Brutofen.

Lynne Ramsay, geb. 1969 in Glasgow, debütierte mit dem Drama „Ratcatcher“ 1999. „A Beautiful Day“ ist ihr vierter Film.
Lynne Ramsay, geb. 1969 in Glasgow, debütierte mit dem Drama „Ratcatcher“ 1999. „A Beautiful Day“ ist ihr vierter Film.

© Araya Diaz/AFP

Es scheint, als hätten die Umstände der Dreharbeiten auf den Film abgefärbt.

Ich hatte nicht geplant, unter diesen Bedingungen zu arbeiten, aber irgendwie fühlte es sich richtig an. Normalerweise willst du dich nach den Dreharbeiten erst mal in einen Winterschlaf zurückziehen, aber wir hätten am liebsten sofort weitergedreht. Wir spürten, das hier etwas Besonderes entsteht. Ich habe in der Zeit kaum geschlafen, vielleicht hat das zur halluzinogenen Qualität des Films beigetragen.

Sie haben für das Drehbuch in Cannes eine Palme gewonnen. Wie war konkret die Zusammenarbeit mit Phoenix, der in Cannes als Darsteller ausgezeichnet wurde?

Wir haben versucht, die Genreklischees zu entfernen, während des Drehs hielten wir uns nicht so streng an das Skript. Ich hatte das Buch den Winter über auf einer griechischen Insel geschrieben, der Kontrast zum New Yorker Sommer könnte nicht größer sein. Es ist der reinste Irrsinn: Stimmen, Verkehrslärm, Kakophonie. Alles passiert gleichzeitig.

Genauso klingt die Tonspur Ihres Films.

Ich hatte mich eines Nachts in einen Hinterhof in Brooklyn zurückgezogen, um die nächsten Szenen vorzubereiten. Plötzlich höre ich um mich herum Explosionen und denke nur: Was zur Hölle ist los? Und dann fiel mir ein, dass es der 4. Juli ist, der amerikanische Unabhängigkeitstag. Ich hatte nichts davon mitbekommen. Das Feuerwerk habe ich mitgeschnitten, um es später Joaquin vorzuspielen. Das geht in deinem Kopf vor, erklärte ich ihm. Er lachte, aber er hat verstanden, worum es mir ging.

Die Szenen zwischen Joe und seiner Mutter stehen im Kontrast zum Rest des Films.

Aus ihrem liebevollen Verhältnis bezieht der Film auch seinen Humor. Joaquin und ich haben uns lange darüber unterhalten, was es bedeutet, für einen älteren Menschen zu sorgen. Man liebt die eigene Mutter, gleichzeitig kann es auch ungeheuer frustrierend sein. Das Schöne an so kurzen Geschichten ist, dass sie einem die Freiheit ermöglichen, Details auszuschmücken. Joaquin und ich konnte neue Aspekte der Geschichten erforschen, die im Buch nur angedeutet waren.

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Joe ist eine exemplarische Figur im aktuellen Kino. Der gebrochene Actionheld, der von der Gewalt gezeichnet ist.

Joe ist fehlbar, er kann sich nicht mehr selbst erkennen oder seine Mitmenschen. Ich hab das Gefühl, dass sich unsere Gesellschaft an einem Wendepunkt befindet. Die Gewalt, die wir täglich erleben, ist so explizit, dass sie im Kino banal erscheint. Daher bin ich erstaunt, dass der Film als so brutal wahrgenommen wird, obwohl die Gewalt im Off stattfindet.

Die Wahl seiner Waffe, ein Hammer, erzählt viel über Joe. Es ist eine langsame Waffe, in ihrer Durchschlagskraft aber auch sehr kinotauglich.

Sie ist leise und brutal. Normalerweise wird Gewalt im Kino ästhetisiert, als wäre sie etwas Poetisches. Dafür hätten wir ohnehin nicht die Zeit gehabt. Aber ein Auftragskiller mit einem Hammer ist auch ein archaisches Bild.

„A Beautiful Day“ ist Ihre erste Zusammenarbeit mit Amazon, nachdem Sie bei Ihrer letzten Studioproduktion „Jane Got a Gun“ nach Differenzen ausgestiegen sind. Sind Streaminganbieter wie Amazon eine Alternative zu den klassischen Strukturen?

Die Entwicklung in Hollywood spitzt sich seit Jahren zu: Dort dreht sich alles nur noch um einige wenige Spektakelfilme. Amazon bietet dagegen ein kreatives Umfeld, ich hatte beim Schnitt zum Beispiel das letzte Wort. Aber mir ist es auch wichtig, dass meine Filme weiter im Kino zu sehen sind, ein Computermonitor würde „A Beautiful Day“ einfach nicht gerecht werden. Er ist ein Trip, auf den man sich einlassen muss.

Ab Donnerstag in 11 Berliner Kinos. OV: Cinestar Sony-Center, OmU: Delphi Lux, FT am Friedrichshain, Hackesche Höfe, International , Kino in der Kulturbrauerei, Moviemento, Neues Off, Rollberg.

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