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Kultur: Abend über dem Malecón

Erstes Leben, zweites Leben: „Suite Havanna“ meditiert über Kuba

John Lennon? Was macht John Lennon in Kuba? Er sitzt auf einer Bank in Havanna, eine Figur aus Bronze. Und weil ihm schon mehrfach die Brille geklaut worden ist, sitzt neben ihm immer ein kubanischer Brillenwächter. Rund um die Uhr, in Zwölfstundenschichten, wechseln sie sich ab, in Regen, Wind und Dunkelheit, auf Klappstühlen, unter Regenschirmen, in der Hand die Thermoskanne Kaffee. „Imagine all the people...“

Schwer, diese stille Abfolge der Lennon-Wächter nicht als Bild für Kuba zu verstehen. Für eine Solidarität, die ohne viele Worte funktioniert. Fernando Pérez’ Film „Suite Havanna“ feiert diese Solidarität, indem er einfach Fäden verfolgt. Fäden, die viele, scheinbar unzusammenhängende Leben in der großen Stadt Havanna verknüpfen. Und erst am Ende stellt sich heraus: sie laufen alle zusammen in der Hand eines kleinen mongoloiden Kindes mit fürchterlich schief stehenden Zähnen und einem wunderbar frechen Lächeln. Im Abspann werden alle Beteiligten nach ihren Träumen gefragt. Und fast alle Träume drehen sich um Francisquito. Nur die alte Amanda, die ihr Leben mit dem Verkauf von Erdnusstüten fristet, wünscht sich nichts.

Der Film von Fernando Pérez ist aufgebaut wie ein Musikstück: die Tonspur zusammengesetzt aus Straßengeräuschen, Menschenstimmen, dem Zischen einer Espressomaschine oder eines Dampfdrucktopfes, Schiffssirenen, Trommeln, dem Rauschen eines Ventilators, und nur manchmal sparsamer Jazz-Musik. Ein Film, halb Dokumentation, halb Komposition, nach Themen geordnet, wie Walter Ruttmanns „Berlin – Sinfonie der Großstadt“: Man sieht Menschen auf dem Weg zur Arbeit. Bei der Arbeit. Beim Kochen. Man sieht sie bei der Mittagspause. Man sieht sie beim Lesen. Und am Abend kehren sie nach Hause zurück, bereiten sich für das Nachtleben vor. Fast alle führen ein zweites Leben.

„Suite Havanna“ verfolgt einzelne Lebens- und Tagesverläufe, wie Melodiestränge, die sich aus einem Akkord entwickeln und irgendwann wieder untergehen in der großen Sinfonie von Havanna: der Arbeiter, der abends in Frauenkleidern auftritt. Der Fahrradbote, der Balletttänzer werden will. Die Drogistin, die ihr Glück bei der Wahrsagerin sucht. Der Arzt, der im Nebenberuf als Clown auftritt. Der Vater von Francisquito, der das Grab seiner Frau besucht, mit einem Strauß Vergissmeinnicht in der Hand. Eine Hobbymalerin, ein Saxofonspieler. Die Erdnussverkäuferin. Der uralte Marxist. Und Jorge Luis Ruiz, der seiner Frau in die USA folgt, und seine ganze Familie verabschiedet ihn weinend am Flughafen. Ein letzter Gruß, leb wohl, Havanna.

In Kuba haben sie diesen Film geliebt. Haben ihn gefeiert, auf dem Filmfest von Havanna im vergangenen Jahr, und später auch in San Sebastian. Haben ihn monatelang vor vollem Haus gezeigt, im größten Kino von Havanna, dem Chaplin. Geliebt wird er wohl, weil er beides zeigt: das heruntergekommene Havanna, die Armut, das Elend, die Revolution, die auf der Stelle tritt, alt wie die Neonreklame auf einem Hotel, müde wie jene Gleisarbeiter, die vergeblich versuchen, die Schienen zu reparieren – und die Wärme, die Nähe, die Melancholie, die die Menschen in diesem seltsam zeitlosen Land verbindet.

Am Ende sieht man nur noch die Wellen, die Gischt, die mächtig über die Brüstung der Strandpromenade Malecón schlägt, hochschäumt bis zu den bröckelnden Häusern. Und ahnt, dass diese Welt versinken wird im Meer, in der Zeit. Die schräg stehende Sonne: eine Sonne des Abschieds.

Balazs, Filmkunst 66, fsk, Nickelodeon (alle OmU)

Christina Tilmann

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