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Aber echt!: Rückkehr der Wirklichkeit in der Kunst

Ist das der Stoff, aus dem Fiktionen sind? Künstler und Schriftsteller suchen wieder einmal nach der Wirklichkeit.

Von Gregor Dotzauer

Aus allen Künsten erschallt neuerdings die frohe Botschaft: Die Wirklichkeit ist wieder da! Kann man das nicht auch für eine Schreckensnachricht halten? Über Jahrzehnte war Wirklichkeit nur eine traurige Metapher für das Soziale – und Realismus ein feinerer Begriff für die Unerschütterlichkeit einer politischen Moral. Man kann hundert Mal beteuern, dass es nicht darum geht, eine kreuzlahme Widerspiegelungstheorie zu beleben, sondern eine Haltung zu erneuern, die sich den Weltläuften stellt: So einfach wird man die materialistischen Geister nicht los.

Kathrin Rhomberg, die Leiterin der gerade stattfindenden Berlin Biennale, die unter dem Motto „Was draußen wartet“ die Wirklichkeit sucht, erklärt ihr Konzept damit, dass sich durch 9/11 und den Zusammenbruch der Finanzmärkte unsere Realität so verändert habe, dass sich auch die Kunst habe verändern müssen.

Ästhetische Umbrüche derart an aktuelle Ereignisse zu koppeln, heißt aber seit jeher, die Bedeutung von Stoffen zu überschätzen, und die künstlerischen Strategien, mit denen man ihnen gerecht wird, zu unterschätzen. Keine Frage, auch der Krieg in Afghanistan fordert womöglich einen Reflex, der nicht im Journalistischen aufgeht. Aber die Taliban konkurrieren mit einer Seerose von Claude Monet oder einer Duineser Elegie von Rainer Maria Rilke nur darum, in ihrer spezifischen Wirklichkeit wahrgenommen zu werden – nicht in einer Hierarchie der drängenden Themen.

Wie gut, dass die Realismen, die sich zwischen Bildender Kunst, Theater, Literatur und Film tummeln, jede programmatisch eindeutige Einhegung verbieten. Das gilt für die Protagonisten der Berliner Schule, die Filmemacher Christian Petzold, Thomas Arslan oder Angela Schanelec, wie für diejenigen des jüngsten deutschen Dokumentartheaters, das Regiekollektiv Rimini Protokoll, dessen Arbeiten Wirklichkeiten von der Bundestagssitzung bis zum indischen Callcenter stets im Wissen um den Anteil ihrer medialen Konstruktion rekonstruieren.

Das Selbstbewusstsein, mit dem dies geschieht, ist sicher eine postmoderne Errungenschaft. Die Tradition dieser Offenheit aber reicht zum Teil weit dahinter zurück. Die gerade in der Münchner Kunsthalle der Hypo-Kulturstiftung angelaufene Ausstellung „Realismus – Das Abenteuer der Wirklichkeit“ schlägt den Bogen von Gustave Courbet, der den Begriff Mitte des 19. Jahrhunderts als erster für seine Malerei in Anspruch nahm, über Edward Hopper bis zu Andreas Gursky und seinen fotografischen Riesenformaten – drei völlig unterschiedliche Spielarten von Realismus, die sich, was Gursky betrifft, nicht einmal aufs unvermittelt Gegenständliche festlegen lassen. Wenn das Haus der Kulturen der Welt die Einrichtung des spartenübergreifenden, künftig alle zwei Jahre geplanten „Berlin Documentary Forum“ damit begründet, dass „die Unterschiede zwischen Realität und Fiktion, zwischen Artefakt und Dokument zunehmend ins Wanken geraten“, klingt das, als hätte man beim Manifest der deutschen Malergruppe Zebra abgeschrieben, die 1964 einen „neuen Realismus“ einforderte.

Der Frankfurter Philosoph Martin Seel, der Theorien des Realen in der Kunst untersucht, beschäftigt sich mit Siegfried Kracauers 50 Jahre alter Filmtheorie von der „Errettung der äußeren Wirklichkeit“. Und der Konstanzer Germanist Albrecht Koschorke, der vor zwei Jahren in Wien die Konferenz „Schauplätze der Evidenz“ zum „Einbruch des Realen“ ausrichtete, entdeckt schon bei Adalbert Stifter das Unheimlichwerden eines illusionistisch geordneten Erzählkosmos im Aufblitzen einer chaotischen Realität. In Frankfurt, wo jüngst das einer zeitdiagnostischen, auf Wirklichkeit versessenen Literatur gewidmete Festival „radikal gegenwärtig“ stattfand, gehörte Koschorke zu den Eröffnungsrednern.

Haben diese disparaten Phänomene eine gemeinsame Gestalt? Oder kommt man nicht über die Einsicht hinaus, dass die Frage nach der Mimesis, der Nachahmung der Natur bis in ihre Wirkungsprinzipien hinein – seit Platon der Dreh- und Angelpunkt jeder Kunstbetrachtung – bis zur Formlosigkeit durchgeknetet worden ist?

Psychologisch hat sich offenbar eine Sehnsucht breit gemacht, den Kopf noch einmal aus der Schlinge einer mal mehr, mal weniger schmerzhaft empfundenen Virtualisierung vieler Lebensverhältnisse zu ziehen. „Unsere Kultur“, schreibt der amerikanische Schriftsteller David Shields in seinem Aufsehen erregenden Manifest „Reality Hunger“ (Alfred A. Knopf, New York 2010), „ist so besessen von realen Ereignissen, weil wir kaum noch welche erfahren“. Sie giert nach allem Unverstellten, Unverfälschten, Authentischen und Spontanen – und verfehlt es in den bewusst fiktionsverseuchten Formaten des Reality TV erst recht. Auch die Karriere des autobiografisch durchdrungenen Memoir in den USA, das hierzulande aus Verkäuflichkeitsgründen gerne mit dem Etikett Roman versehen wird, hat damit zu tun.

Welche Mächte dabei gegeneinander stehen, lässt sich mit einer Zahl illustrieren. 2008, notiert Shields, seien mehr Stimmen für „American Idol“, die US-Variante von „Deutschland sucht den Superstar“, abgegeben worden als für Barack Obama: 97 Millionen gegenüber 70 Millionen für den neuen Präsidenten. Die Wahl war offenbar die schlechtere Show.

Das Faszinierende an Shields ist, dass er nun gerade nicht die simple Restitution des Realen gegenüber dem schönen Schein einklagt. Die 618 Kurzabschnitte, in denen er von Ross McElwees Dokumentarfilmen über J. M. Coetzees Romane bis zu den Samples des Hip-Hop den Verschränkungen des Fiktionalen und Nichtfiktionalen, des Vorgefertigten und des Erfundenen nachgeht, sind eine einzige Einladung, die konventionelle Trennung der Sphären aufzugeben.

Er weiß genau, dass es kein zuverlässiges Maß gibt, an dem sich der Sättigungsgrad unserer Realitätserfahrung ablesen lässt. Die Wirklichkeit ist eben auch nur eine sich wandelnde Idee, als Idee ist sie aber natürlich auch eine Wirklichkeit. Shields macht deutlich, wie kraftlos eine Fiktion geworden ist, die sich dem nicht stellt. Nur sie hat das Zeug, so vertraute wie fragwürdige Dichotomien zu relativieren: zwischen Außenwelt und Innenwelt, Idealismus und Realismus, Readymade und Artefakt, Original und Kopie – und vor allem zwischen Natur als dem vermeintlich Gegebenen und Kultur als dem Geformten.

Das beste Beispiel ist, dass Shields selbst den größten Teil dieses Buchs leicht verändert aus anderen Büchern montiert und trotzdem etwas Neues geschaffen hat. „Die mimetische Aufgabe der Kunst“, schreibt er, „hat weniger abgenommen als sich verändert. Die Werkzeuge des Metaphorischen haben sich erweitert. Marilyn und Elvis sind in selbem Maß Teil der natürlichen Welt wie es die See und ein griechischer Gott sind“.

Auch das haben andere, obwohl es Originalton Shields ist, schon ausführlich festgestellt. Wer aber Shields vorwirft, dass er in seinem Manifest etwa auch Alain Robbe-Grillets „Argumente für einen neuen Roman“ heranzieht, übersieht, dass sie 1963 etwas anderes bedeuten mussten als in unserem heutigen durchmedialisierten Umfeld.

Vielleicht versucht das historische Pendel, das zwischen den Polen von selbstreflexiver Kunstautonomie, die ihre eigene Wahrheit hervorbringt, und Repräsentation von Wirklichkeit seit Jahrhunderten hin- und herschwingt, seine eingefahrene Bahn zu verlassen. Denn wir können mit der Existenz dieser Pole zwar einen Sinn verbinden, wissen zugleich aber genau, dass wir sie nie auffinden werden.

Realismus, darin ist man sich heute weitgehend einig, ist ein Ergebnis von Wirklichkeitseffekten. Wie sie für Romane funktionieren, hat Roland Barthes in seinem Aufsatz „Der Wirklichkeitseffekt“ just im bewegten Frankreich des Jahres 1968 (und mit Blick darauf) am Beispiel von Flauberts „Madame Bovary“ dargestellt. Es war nur eine Frage der Zeit, die Einsicht in die Zeichenhaftigkeit der Wirklichkeit zu radikalisieren.

Jean Baudrillard besang Ende der siebziger Jahre die „Agonie des Realen“ und sah ein Zeitalter der Hyperrealität heraufziehen. Der Dekonstruktivist Paul de Man bezweifelte sogar die innere Stimmigkeit von Texten, indem er zeigte, wie ihre Metaphern und rhetorischen Mittel, das, was sie sagen wollen, von innen heraus aufzehren.

Insofern zeugt das, was Shields quer durch alle Gattungen aufgesammelt hat, von einem Realismus für das Irreale allen Wirklichkeitserlebens, der sich die Idee von der Erkenn- und Gestaltbarkeit der Welt doch nicht ausreden lassen will. Das Motto liefert übrigens ein großer realistischer Erzähler, Graham Greene: „Wenn wir uns nicht sicher sind, dann sind wir lebendig.“ Nehmen wir das ruhig als Aufforderung, auch deshalb in unserer Verunsicherung nicht nachzulassen.

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