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Kultur: Abschied vom Dreibuchstabenland

Uwe Kolbe geht seiner Vergangenheit in „Vinetas Archiven“ auf den Grund

Manchmal genügen ein paar Schritte ins Offene, um eine ganze Welt zum Einsturz zu bringen. Auf unspektakuläre Weise manifestierte sich am 20. April des Jahres 1982 diese Urszene im Leben des jungen Dichters Uwe Kolbe: Nach einer kurzen Passkontrolle verließ er den „Tränenpalast“ am ehemaligen Ostberliner Grenzübergang Friedrichstraße und gelangte auf den S-Bahnhof im Westen – und binnen weniger Sekunden begannen die Fundamente seiner alten Wirklichkeit, des äußerlich noch stabilen, innerlich aber bereits maroden DDR-Sozialismus zu schwanken.

Dieser identitätserschütternde Frühlingsaugenblick steht im Zentrum der Essays, Meditationen, Reminiszenzen und Skizzen, die Uwe Kolbe in seinem neuen Buch „Vinetas Archive“ versammelt hat. Es enthält die Bausteine zu einer großen Confessio des Dichters, zu einer Lebenserzählung, die sich noch einmal die große Verheißung vergegenwärtigt, mit der die Generation des heute 53-Jährigen aufgewachsen ist. Die Tragik der „abgesoffenen Hoffnungen“ im „Dreibuchstabenland“ wird hier mit einem mythischen Namen verbunden: Vineta.

Die sagenhafte Ostseeinsel nimmt Kolbe als Chiffre für Hoffnung und Verbrechen, ein Ort, in dem zuletzt noch das „Schweigen der Macht“ hauste. Vom versunkenen Vineta handelte bereits das Titelgedicht seines 1998 publizierten Gedichtbands, in dem der Autor nicht nur die untergegangene Verheißung verabschiedete, sondern aus dem bedrückenden Schweigen heraustrat, das seine Generation zu Lebzeiten der DDR befallen hatte.

Nun tritt Kolbe noch einmal an, um in „Vinetas Archiven“ nach den Motivationen und Selbstlegitimationen seiner Generation zu suchen. Die „rückwärtsgewandten Bemerkungen“ und „Marginalien“ zum Verhältnis von Literatur und Utopie, die sein neues Buch eröffnen, liefern die detailscharfe Archäologie eines zwiespältigen Heimatgefühls.

Die Landkarte des sozialistischen Vineta umfasst hier den Nordosten Berlins, jene Hinterhofbuden und Landschaften an der Peripherie. In dieser staatlich massiv reglementierten Lebenswelt widerfuhren dem jungen Poeten die ersten Ernüchterungserfahrungen. Es sind die kleinen Repressionen im DDR-Alltag, die in diesen Erinnerungsbildern aufblitzen und die der junge Dichter als heilsames Training erlebte. Ein mit erotischen Hoffnungen verbundener Ausflug nach Schönefeld mobilisiert hier die Hysterie der DDR-Grenzschützer. In einem weiteren Suchbild sehen wir den Bahnreisenden, der ein „verdächtiges“ Buch mit sich führt und beim Grenzübertritt sofort mit Sanktionen belegt wird.

Auf diesem Boden eines paranoiden Machtsystems konnte keine Utopie mehr gedeihen, so dass Kolbe bereits früh seine prinzipielle Absage an die „ummauerten Paradiese“ der DDR-Gesellschaft formulierte. Wenn es aber darum geht, „vielerlei Feigheit“ der Schriftsteller zu benennen, zeigt der Dichter auch mit den Fingern auf sich. Hier liegt auch eine entscheidende Differenz zu anderen Autoren seiner Generation, die in erfahrungsresistentem Beharrungstrotz bis heute an ihrem sozialistischen Traum festhalten wollen, mag er noch so diffus sein.

Im zweiten Teil von „Vinetas Archiven“, in kleinen Porträts und Veduten, trägt Kolbe weitere Mosaiksteine in sein Erinnerungs-Panorama ein. Dabei werden auch Gelegenheitsarbeiten oder Katalogtexte eingeschmuggelt, die hinter der Vergegenwärtigungskraft seiner Vineta-Erkundungen weit zurückbleiben. Nur in der Miniatur über Franz Fühmann, dem frühen Mentor Kolbes, der ihn auch bei seiner ersten Reise in den Westen begleitete, und in einer schönen Rollenprosa zu Hölderlin erreicht der Vineta-Archivar Kolbe im zweiten Teil seines Buches die Tonhöhe seiner luziden Utopiekritik: „Sonst hatten wir doch nur unser Schwärmen, sonst nur unser durchscheinendes Sein in den Himmeln.“

Uwe Kolbe:

Vinetas Archive.

Annäherungen an Gründe. Wallstein

Verlag, Göttingen 2011. 224 Seiten, 19,90 €.

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