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Augenmaß im Augenblick. Bundeskanzlerin und auch noch CDU-Vorsitzende Angela Merkel.

© imago/IPON

Abschied von der Ära Merkel: Meine Jahre mit Angela

Anfangs konnte man sie noch mit Katharina Thalbach verwechseln: Ein kleiner Nachruf zu Lebzeiten auf die große Politikerin Angela Merkel.

Als Angela Merkel im Januar 1991 als Ministerin für Frauen und Jugend vereidigt wurde, dachte ich, das wäre Katharina Thalbach, die tolle Schauspielerin. Dieser pagenhafte Haarschnitt, die schönen Lachfalten, die blauen Augen, das irgendwie Mädchenhafte. Die Thalbach wird von dem Weizsäcker in der Villa Hammerschmidt geehrt, zu Recht, dachte ich, aber wieso standen da Hans-Dietrich Genscher, Theo Waigel, Nobert Blüm, Jürgen Möllemann. Manfred Kanther, Gerhard Stoltenberg, das versammelte vierte Koalitions-Kabinett der Ära Kohl?

Es wirkte schon damals wunderlich: Was macht diese Frau unter all diesen Männern! Was macht eine, die vor Jahren noch die erworbenen Kenntnisse in Marxismus-Leninismus in einer schriftlichen Arbeit darlegte mit dem Titel: „Was ist sozialistische Lebensweise“, in dieser CDU?

Heute, 27 Jahre später, mit 18 Jahren Merkel als Parteivorsitzende der CDU und 13 Jahren als Kanzlerin, könnte man sagen: Sie übte die CDU, wenn zwar nicht in sozialistischer, aber dennoch komplett anderer Lebensweise. Beim heutigen Anblick der CDU hätten Kanther, Stoltenberg oder Kohl die junge Frau wahrscheinlich gerne rückwirkend wieder aus der Villa Hammerschmidt getragen, auf jeden Fall raus aus dem Kabinettsbild.

Sie schob die Männer zur Seite

Heute weiß man, es war umgekehrt. Die Frau trug die Männer aus dem Bild: Kohl, Schäuble, Friedrich Merz, Edmund Stoiber, Roland Koch, manchmal sogar trug sie ganze Parteien aus dem Bild, die FDP, die SPD, am Ende vielleicht auch ihre eigene Partei.

Am 22. November 2005, am Tag ihrer Vereidigung als Bundeskanzlerin, bekam ich eine Urkunde als Gastprofessor in Leipzig. Der Rektor der Universität erhob sich feierlich und sagte: „Vor 27 Jahren wurde Angela Merkel in diesem Raum ihr Diplom ausgehändigt. Der Titel ihrer Arbeit lautete: „Der Einfluss der räumlichen Korrelation auf die Reaktionsgeschwindigkeit bei bimolekularen Elementarreaktionen in dichten Medien“, er konnte es auswendig. Dann sagte er noch, etwas gönnerhaft: „Und nun wird jemand aus meiner Universität Bundeskanzlerin, eine Frau!“

„Oh, ich hoffe, sie ist auch eine Frau“, entgegnete ich, das war mir wirklich nur so herausgerutscht, denn immerhin hatte sie gerade Kohl und Schäuble aus dem Weg geräumt.

Heute würde ich so etwas nicht mehr sagen. Wo in manchen ach so humanistischen Kultur-und Theaterbetrieben die Intendanten auftreten, als befände man sich noch im Feudalsystem, war Merkel wirklich ein Segen für diese schrecklich männlichen Betriebswelten. Sie durchbrach die Muster, indem sie Männer wie Schröder, Berlusconi, Putin, Sarkozy, George W. Bush mit Unaufgeregtheit und Schlichtheit und manchmal auch Schläue in Schach hielt. Als sich Putin im Kreml wieder einmal einem Anruf Merkels entziehen wollte, sprach Merkel mit der Kreml-Sekretärin über Putins neueste oberkörperfreien Jagdfotos und schon nahm Putin, der offenbar mitgehört hatte, den Hörer ab. Zumindest erzählte das ein Chefredakteur, der mal eine Nacht mit Merkel Rotwein getrunken hatte.

Wegen Kohl vergoss sie Tränen

Eine Merkel-Hymne, zu der man ja bei angekündigten Abschieden neigt, kann ich dennoch nicht schreiben. Für was stand sie all die Jahre? Was war ihre Leidenschaft? Ja, ihre Vision? Die Abwendung der Finanz- und Eurokrise? Europa? Und was noch?

Es gibt Themen, da habe ich sie nie verstanden. Als sie 1994 Bundesumweltministerin wurde, ging es noch gut los. Sie befürwortete eine Ökosteuer, was aber Helmut Kohl nicht wissen durfte; sie forderte die Besteuerung von Flugbenzin, die der Kanzler verhinderte, weil er die Landtagswahl in Hessen gewinnen wollte. Sie setzte sich für ein Fahrverbot bei Sommersmog ein und wurde dafür so zusammengestaucht, dass sie in Tränen ausbrach. Aber dann, später? Sie kassierte als Kanzlerin ein bestehendes Ausstiegsgesetz aus der Atomenergie, um dann nach Fukushima den berühmten „Ausstieg aus dem Ausstieg aus dem Ausstieg“ zu beschließen, deren Volten kein Mensch mehr nachvollziehen konnte. „Ein Ausstieg mit Augenmaß zu schaffen“, sagte sie, „ist die große Herausforderung im Augenblick.“

Augenmaß im Augenblick! Das konnte sie, in ihren langen, stärkeren Phasen, in den schwächeren gar nicht, wie zuletzt bei der unglaublichen, später zurückgenommenen Beförderung des Verfassungsschutzpräsidenten Hans-Georg Maaßen, die vielleicht den Anfang vom Ende der Merkel-Ära einläutete.

Augenmaß im Augenblick, wahrscheinlich funktionierte das so ähnlich wie der „Einfluss der räumlichen Korrelation auf die Reaktionsgeschwindigkeit bei bimolekularen Elementarreaktionen in dichten Medien“. Sich immer die Position herauszusuchen, die gerade im dichten Medien- und Politikbetrieb mach- und begehbar war, auch wenn sie elementar das Gegenteil war, von dem, was sie vorher behauptete bzw. genau das war, was die anderen schon die ganze Zeit propagierten. Mit dieser fast unverschämten Methode, sich einfach über die Ladentheke der anderen, das zu nehmen, was gerade gebraucht wurde, hatte sie meistens recht. Und richtete mit diesen pragmatischen Zugriffen ganze Läden wie die SPD zu Grunde, weil die am Ende nichts mehr hinter der Theke hatten, weder Wirt noch Ware. Allerdings erging es auch Begriffen wie dem des Konservatismus mit Merkel nicht anders, irgendwann bedeutete er nichts mehr.

Pragmatisch bis zur Selbstaufgabe

Ihren Pragmatismus fand ich manchmal schwer zu ertragen. Der Flüchtlingsdeal mit der Türkei, ihren Staatsbesuch bei Erdogan zwei Wochen vor den Präsidentschaftswahlen mit angekündigter Verfassungsänderung. Ihr Bekenntnis zu George W. Bush und dessen Konfrontationskurs mit dem Irak. Ihr Werben als „Klimakanzlerin“, um dann den UN-Klimagipfel 2014 abzusagen und doch lieber an einer Tagung des Bundesverbands der Deutschen Industrie teilzunehmen.

Wenn es denn neben dem Pragmatismus wenigstens eine Ahnung bei ihr gegeben hätte, wie dieses Land eigentlich aussehen soll, welche geistige Richtung sie dem Land geben will. Man hatte immer das Gefühl, unter Merkel seienWerte abwägbar, das war immerhin nicht ideologisch, aber eben schrecklich pragmatisch.

Bis jener Spätsommer 2015 kam, ihr berühmter Satz, „Wir schaffen das“, nur wenige Wochen vor ihrer irrsinnigen Türkeireise und elf Jahre nach ihrem Verdikt, dass die multikulturelle Gesellschaft gescheitert sei.

Ich hatte syrische Flüchtlinge in der Türkei kennengelernt, die dort auf der Straße lebten, und versucht, sie bei türkischen Verwandten auf einer Gemüsefarm unterzubringen. Okan wäre mit seinen Kindern gerne in Syrien geblieben, aber nun war es zu gefährlich geworden, weil die Türkei ausgerechnet jene kurdischen Stellungen für den Wahlerfolg 2015 bombardierte, die Okans Stadt bisher vor dem IS geschützt hatten.

Dieser syrische Handwerker war der erste, der mir das Merkel-Selfie mit syrischem Flüchtling zeigte: Merkel mit türkisfarbener Jacke, Kopf an Kopf mit Okans Landsmann. Dann beglückwünschte und drückte er mich, so als sei die Bundeskanzlerin auf dem Bild meine große Schwester.

Demokratie als Schicksal

Mich hat das sehr berührt. Da erschien plötzlich, durch Okans Handy, die große schöne Aufgabe, ein Zusammenleben zu versuchen. Demokratie nicht mehr als Volks-, sondern als Schicksalsgemeinschaft. Und schon sah man Deutsche im ganzen Land, die begrüßten, halfen, sich zeigten. Merkel hatte vielleicht so etwas wie Empathie und Gemeinschaftssinn wach gerufen, auch wenn ihr der Satz und die Entscheidung, die deutschen Grenzen für Flüchtlinge nicht zu schließen, in den Folgejahren mächtig um die Ohren flog.

Vielleicht ist jener Satz und das Selfie mit dem Syrer ihr prägendster und visionärster Moment als Kanzlerin. Dann nämlich, wenn das Jahr 2015 vielleicht wirklich den Beginn einer anderen Welt markiert, in der ein teilendes, sich neu erfindendes Europa unausweichlich ist.

Noch weiß niemand so wirklich, wer „wir“ sind, wenn alle Grenzen offen sind und sich dieses Land ganz selbstverständlich um Syrer wie Okan kümmert. Noch spalten sich Europas alte Gesellschaften, noch zerbrechen in Deutschland Volksparteien vor lauter Angst, AfD, Hass und Pegida. Noch investiert die Europäische Union Milliarden in Abwehrzäune und Überwachungssysteme.

Doch Menschen werden weiter migrieren. Nicht nur, weil sie verfolgt werden, weil Kriege herrschen, weil wir selbst Kriege fördern, weil Land und Wasserversorgung zerstört werden und weil es immer mehr Klimawandel gibt, sondern auch, weil diese Menschen längst durch die globale Kultur und globale Netzwerke an unsere europäische Welt angebunden sind. Und irgendwann wird uns gar nichts anderes mehr übrig bleiben, als uns an Merkels großen Satz aus dem Sommer 2015 zu erinnern.

Von Sigmar Gabriel geklaut

Es ist übrigens typisch Merkel, dass sie diesen Satz eigentlich Sigmar Gabriel entwendet hat, der hatte ihn schon eine Woche vorher in einem Videobeitrag zu den bevorstehenden Aufgaben Europas gesagt. Es gibt trotzdem noch einen Satz von Angela Merkel, der wirklich von ihr ist, den muss man zitieren: „Wenn wir jetzt anfangen, uns noch entschuldigen zu müssen dafür, dass wir in Notsituationen ein freundliches Gesicht zeigen, dann ist das nicht mein Land.“

Falls ich sie jemals treffen sollte, würde ich sie für diesen Satz umarmen. Und wenn man sich jetzt im politischen Berlin und anderswo umschaut, dann stehen da wieder Männer wie aus der Villa Hammerschmidt: Jens Spahn, Friedrich Merz, Markus Söder … Ja, vielleicht werden wir Angela Merkel bald vermissen.

Moritz Rinke ist Schriftsteller und Dramatiker. Sein neues Stück „Westend“ wird demnächst im Deutschen Theater Berlin uraufgeführt.

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