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Reise ins innere Afrikas: Alain Plates Stück "Coup Fatal" wurde bei den Festwochen uraufgeführt.

© Wiener Festwochen

Abschluss der Wiener Festwochen 2014: Gegen den Strom

Ein großer Jahrgang: Die Wiener Festwochen beeindruckten mit einem fulminanten, eindringlichen und klugen Programm und schließen mit Alain Platel und Claude Régy.

Ein Röcheln entfährt seinem Mund, ein Zischen und Gurgeln. Gepresstes Atemholen, heiseres Winseln. Bis sich der gekrümmte Körper aufbäumt und herauswürgt ein nie gehörtes Bellen. Dem tiefsten Inneren des Mannes entkommen, steigert sich der elementare Klagelaut zu triumphalem Gekläff. Halb Tier, halb Mensch, feiert die Kreatur ihr Überleben: entkommen den Fluten des Wassers, entronnen den innerseelischen Verlockungen, der eigenen Existenz ein Ende zu bereiten.

Mit einem außergewöhnlichen Grenzgang zwischen Leben und Tod, Bewusstem und Unbewusstem, basierend auf neun Seiten des autobiografischen Romans „La Barque le soir“ des norwegischen Dichters Tarjei Vesaas von 1968, enden die diesjährigen Wiener Festwochen wie sie begonnen haben: mit einer Inszenierung des 92-jährigen Franzosen Claude Régy, dessen Arbeiten Schauspieldirektorin Frie Leysen erstmals in Wien präsentierte. Nach Maeterlincks „L’Intérieur“ zeigt Régy mit dem „Boot am Abend“ ein weiteres Meisterstück seines hochartifiziellen, Stille und kontemplative Langsamkeit feiernden Theaters, das in seiner poetischen Reduktion dem Zuschauer ungeahnte Imaginationsräume öffnet.

Uraufführung von Alain Platels "Coup Fatal"

Im dunklen Zwielicht, begleitet von kaum hörbaren Elektrosounds, changiert das Antlitz Yann Boudauds zwischen Selbstaufgabe und Verzückung. Auf einem schmalen Steg vor einem den Flussgrund imaginierenden Vorhang reichen exakt choreografierte Zeitlupen-Gesten aus, um das Abtauchen des Lebensmüden genauso glaubhaft vorzustellen wie sein Treiben im Fluss. In einer verinnerlicht-verlangsamten Sprache entfaltet sich sein Bewusstseinsbildungsprozess ebenso wie die karge Handlung seiner Rettung durch zwei stumme Männer (Olivier Bonnefoy, Nichan Moumdjian). Im präzisen Spiel mit Licht und Dunkelheit, Körper und Worten verschwimmen zusehends die Grenzen zwischen Innen- und Außenwelt und schärfen den Blick auf das Hier und Jetzt.

Der Fokus auf die Gegenwart menschlicher Katastrophen gelang mit gegensätzlichen, weit exaltierteren Mitteln auch dem flämischen Choreografen Alain Platel mit seiner Uraufführung von „Coup Fatal“ im Burgtheater. Begleitet von E-Gitarrensounds eröffnen die beschwingten Töne der Toccata aus Claudio Monteverdis „L’Orfeo“, gezupft an glockenhell klingenden Daumenklavieren, sinnstiftend die musikalische Reise in ein durch jahrzehntelange Bürgerkriege, Kolonialismus und Ausbeutung traumatisiertes Land: in den zentralafrikanischen Kongo. Und ähnlich dem Mythos von Orpheus, wie ihn Monteverdi in seiner Oper gestaltete, ist es die Musik, die dem Elend trotzt und die Lebendigkeit und Lebensfreude der Menschen zum Ausdruck bringt.

Dreizehn männliche Musiker aus Kinshasa mit klassischen Pop-Instrumenten, wie Gitarre und E-Bass, und afrikanischen Percussionsinstrumenten begleiten tanzend und singend den Gesang des kongolesischen Countertenors Serge Kakudji. Barockarien von Händel, Vivaldi und Gluck mixte der belgische Komponist Fabrizio Cassol mit zentralafrikanischer Popmusik. Assoziativ umkreisen sie Tod und Vernichtung, unterstützt durch die verspielt-pathetische Gestik der Tänzer, die sich bei Orfeos Klage um Euridice ans Herz fassen, eine Beat-Boxing-Nummer einlegen oder zu Bachs Klängen aus dem „Wohltemperierten Klavier“ mit zwei Frauen im Zuschauerraum tanzen.

Programm war fulminant wie lange nicht mehr

Wenn zur Halbzeit dieses szenischen Konzerts die Musiker plötzlich in bunten Anzügen auftreten, mit Hüten, Krawatten und sogar Pfeife im Mund, dann verweist Platel mit einem Augenzwinkern auf die Tradition der Sapeurs: Jene Dandys aus den Armenvierteln in Kinshasa, die mittels Second-Hand-Kleidung und distinguierter Posen den Widrigkeiten des Alltags ebenso trotzen wie sie ihre ehemaligen Kolonialherren parodieren. Begleitet vom feinen Aneinanderschlagen unzähliger, gebrauchter Patronenhülsen, aus denen der kongolesische Bildhauer Freddy Tsimba die glänzenden Bühnenvorhänge fertigte. Sie eröffnen metaphorisch den Blick auf eine Realität, die für viele Afrikaner tagtäglich mit einem Todesstoß, einem „Coup Fatal“ endet.

Anders als Johan Simons, der mit seiner gestelzt-drögen Version aus Pappmaché-Masken von Jean Genets „Die Neger“ die Dringlichkeit der Auseinandersetzung mit Rassismus verspielte, gelingt es Platel mit einem wunderbaren Ensemble tanzender Musiker, die Realität des Kongo und den Widerstandsgeist seiner Künstler erfahrbar zu machen.

Dem überkommenen eurozentristischen Blick mannigfaltige ästhetische Positionen aus aller Welt entgegenhaltend, präsentierte Schauspieldirektorin Frie Leysen ein so fulminant eindringliches, kluges Programm wie schon lange nicht mehr bei den Wiener Festwochen, die an diesem Wochenende vorüber sind. Rabih Mroué, Wael Shawky, William Kentridge, Brett Bailey, Tsai Ming-liang gehörten dieses Jahr zu den Künstlern, die sich dem Existenziellen annäherten. Anstelle modischer Inhalte setzte sie auf ästhetisch eigenwillige Positionen jenseits des gängigen Marktkonformismus, auch wenn einige bekannte Namen des Festivalbetriebs dabei waren. Umso bedauerlicher ist Leysens verfrühter Abgang aus Wien am Ende dieser Saison.

Christina Kaindl-Hönig

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