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Ach, du liebe Zeit!: 2012 ist Schaltjahr - wird dadurch das Leben länger?

2012 ist einen Tag länger. Die am 29. Februar Geborenen können sich freuen, aber wann feiern sie eigentlich sonst Geburtstag? Und war es wirklich ein Grieche, der den Extraarbeitstag erfand?

Ein lächerliches Thema! Nicht der Rede, keiner Überlegung wert. Fand er. Und beschäftigte sich dann doch damit.

1793 schrieb Georg Christoph Lichtenberg, da schon bucklig gewordener Physiker, Mathematiker, Astronom und Schriftsteller, einen kleinen Text, den er „Trostgründe für die Unglücklichen, die am 29sten Februar geboren sind“ nannte. Es war die Antwort auf eine Frage, die „in einem berühmten Journal ziemlich ernstlich aufgeworfen und – unbeantwortet geblieben“ war, die Frage nämlich, wann ein an eben jenem Tag Geborener denn feiern solle. Wo doch sein Geburtsdatum nur alle vier Jahre im Kalender vorkommt: in den Schaltjahren. Den Jahren mit 366 Tagen.

2012 ist wieder so ein Jahr. In Deutschland werden am 29. Februar etwa 55 000 Menschen ausnahmsweise ihren Geburtstag an ihrem Geburtstag feiern können.

Es gibt komplizierte Berechnungstabellen, nach der die am 29. Februar Geborenen ihre Jubeltage auf die angrenzenden Daten verteilen sollen, auf den 28. Februar oder den 1. März. Im Sechs-Stunden-pro-Jahr-Takt würde der Geburtstag demnach rutschen, je nachdem, um welche Uhrzeit man das Licht der Welt erblickte. Wer beispielsweise am 29. mittags um zwölf Uhr geboren wurde, der feiert seinen ersten Geburtstag am 28. Februar (um 18 Uhr abends), den zweiten um null Uhr des 1. März, den dritten am 1. März morgens um sechs und den vierten dann wieder am 29. Februar.

So wäre es wohl am korrektesten. Denn ein Mensch wird zwar an einem gewissen Datum geboren, sein erster Atemzug ist aber mit Lichtenberg „ein Punkt von Zeit“. „In diesem Punkt steht die Sonne in einem gewissen Punkt der Ekliptik“ – das ist eine Art gedachter Großkreis in der Himmelssphäre, auf dem sich die Sonne im Laufe des Jahres zu bewegen scheint. Und erst, wenn die Sonne das nächste Mal wieder an genau demselben Punkt stehe, ist der Mensch ein Jahr alt. Das ist ziemlich genau 365 Tage und sechs Stunden nach dem ersten Atemzug der Fall – und der Tag, in den jener Zeitpunkt fällt, ist der Geburtstag des Menschen. „Er heiße nun übrigens im Kalender, wie er wolle“, formuliert Lichtenberg. Das war sein Haupttrostgrund. Dass im Grunde jeder Mensch nur alle vier Jahre die Sonnenkonstellation seines Geburtsmoments wiedertrifft – im Grunde also jeder Mensch mal am einen, mal am anderen Tag Geburtstag hat.

Diese Art Pragmatismus kann Britta Stehr, eine vom Schaltjahr indirekt Betroffene, gefallen. Durch ihre Wohnung im Hamburger Stadtteil Alt-Rahlstedt dringt leises Trompetengebläse, es wird gerade noch geübt für einen Auftritt in der Kirche. Sie erinnert sich gut an die Gesichter, die Verwandte und Bekannte vor knapp 13 Jahren zogen, als sie mitteilte, was ihr als Stichtag für die Geburt des zweiten Kindes berechnet worden war. Der 27. Februar 2000. Hoho und hihi machten die Verwandten und Bekannten, wenn das man klappt . . .

Es klappte nicht, und sie und ihr Mann fuhren am Abend des 28. Februar ins Krankenhaus. Sieh zu, dass es schnell rauskommt, gab ihr der Mann mit auf den Weg in den Kreißsaal, das Kind, sie kannten das Geschlecht nicht. Aber was hätte sie tun können? Am Ende war es dann gegen drei Uhr am Morgen des 29. Februar, und als dieses Datum das nächste Mal im Kalender stand, war Sohn Cornelius schon vier.

In den anderen Jahren haben sie den Geburtstag des Kindes natürlich auch gefeiert. Am 1. März. Das haben sie nicht auf Basis einer Sechs-Stunden-pro-Tag- Regel entschieden, das entschied die Mutter quasi aus dem Bauch heraus: Am 28. Februar war sie noch schwanger, erst am Tag danach war das Kind da, also wird erst am Tag danach gefeiert.

Der ungewöhnliche Geburtstag ihres Sohnes verdankt sich nicht nur der bereits vorchristlichen Erkenntnis, dass die Erde sich während eines Sonnenumlaufs 365 und ein Viertel mal um ihre eigene Achse dreht, sondern auch einer Anordnung des Papstes Gregor XIII. aus dem Jahr 1582. Darin modifizierte der die geltende Regel, dass der Schalttag in jedem durch vier teilbaren Jahr stattfindet, in jedem hundertsten aber ausfällt mit den Worten: „Im Jahre 2000 aber soll nach gewohnter Weise ein Schalttag eingefügt werden, so dass der Februar 29 Tage enthält.“ Und so ist also Cornelius Stehr an einem doppelt ungewöhnlichen Tag zur Welt gekommen: an einem Schalttag, den es eigentlich nicht hätte geben dürfen.

Einige Länder haben bis heute zwei getrennte Zeitmesssysteme

Der Junge selbst nimmt es entspannt. Die Eltern hätten ihm immer gesagt, am 29. Februar geboren zu sein, sei etwas ganz Besonderes, „das soll ich wertschätzen“. Es macht ihn auch zu etwas Besonderem. In der Schule hat es sich herumgesprochen, Kinder, Eltern, Lehrer sind zu ihm gekommen und haben nachgefragt: Stimmt das wirklich? Zu seinem achten Geburtstag im vergangenen Schaltjahr haben ihm Freunde einen kleinen Kuchen mit zwei Kerzen drauf geschenkt. Das fand er lustig. 2012 nun wird er drei, vielmehr zwölf. Und wenn in der Schule über das Schaltjahr gesprochen wird, muss er nicht automatisch etwas Erklärendes dazu beisteuern. Könnte er aber. Er sagt: „Die sechs Stunden verteilen sich auf 365 Tage, wir merken das nicht.“

Jedenfalls nicht im Laufe eines Jahres. Im Laufe vieler Jahre aber passten Jahreszeiten dann nicht mehr zum Kalender. Oder wie der Naturwissenschaftler Friedrich L. Boschke in seinem Buch „Und 1000 Jahre sind wie ein Tag – Die Zeit, das unverstandene Phänomen“ ausführt: „Die Schwierigkeiten mit der Jahreslänge liegen darin, dass in dem Augenblick, in dem ein Jahr zu Ende ist, nicht auch ein Tag zu Ende ist.“ Das wäre im Gegenteil ja auch ein „komischer Zufall“, so Boschke.

Die Babylonier der Frühzeit schoben immer dann, wenn Erntemonat und Erntezeit gar nicht mehr zueinander passen wollten, einfach einen zweiten Erntemonat ein. Und dann kam, es war um 240 vor Christus, der Grieche Eratosthenes, der bereits damals den Erdumfang auf erstaunlich korrekte 40 000 Kilometer schätzte, daher und schlug die Alle-vier-Jahre-ein-zusätzlicher-Tag-Lösung vor, auf die da zwar niemand einging, aber trotzdem gilt er der Wissenschaft als Erfinder des Schaltjahrs.

Julius Cäsar war es, der 46 vor Christus die Entdeckung des Eratosthenes übernahm, als er den Julianischen Kalender austüfteln ließ, um damit die Zeit wieder in Ordnung zu bringen. Der Wunsch, Zeit zu ordnen, geht aber noch weiter zurück. In allen Regionen der Welt gab es schon tausende Jahre vor Christi Geburt – die nach neuerer Erkenntnis übrigens selbst sieben Jahre vor Christus datiert – Menschen, die aus Tag und Nacht, dem Lauf der Sonne, den Veränderungen der Sterne und vor allem dem Ab- und Zunehmen des Mondes, aus Jahreszeiten und Sonnenfinsternissen einen Kalender schufen: sichtbar bis heute an den 5000 Jahre alten Steinen von Stonehenge oder den Überlieferungen zur Maya-Kultur – aktuell im Gerede wegen des für 2012 prophezeiten Weltuntergangs.

Einige Länder aber haben bis heute zwei getrennte Zeitmesssysteme – meist beruht eins auf religiösen Vorstellungen, etwa im Jüdischen Kalender, dessen Basis der Zeitpunkt der biblischen Schöpfung ist, der auf das Jahr 3761 v. Chr. berechnet wurde. Auch Caesars Julianischer Kalender wurde wegen kirchlicher Beschwerden geändert. Er produzierte nämlich pro Jahr einen Zeitfehler von elf Minuten und 14 Sekunden, was alle 128 Jahre einen Tag zu wenig ergab, woraus im 16. Jahrhundert eine Differenz von zehn Tagen geworden war, weshalb der kirchliche Plan fürs Osterfest kippelte, das sich nach dem Frühlingsanfang richtet und immer auf den Sonntag nach dem Frühlingsvollmond fällt. Nun aber war der kalendarische Frühlingsanfang dabei, in den jahreszeitlichen Sommer zu rutschen. Der Kalender-Papst Gregor XIII. verordnete 1582 eine Radikalkur. Er wies für das laufende Jahr an, vom 4. Oktober auf den 15. vorzurücken. Außerdem nahm er das nahende Jahr 1600 (wie auch 2000) von der Schalttagsregelung aus. Als man mehr als 150 Jahre später diesen Gregorianischen Kalender in England einführte, wurde dort erneut eine Zeitspanne übersprungen, man sprang vom 2. auf den 14. September, was zu Klagen der Menschen führte, denn hatte man ihnen nicht zwölf Tage gestohlen?

Macht der zusätzliche Tag das Leben länger?

Aber wie ist es denn überhaupt mit der gestohlenen und der geschenkten Zeit? Macht der zusätzliche Tag des kommenden Jahres das Leben länger?

Leider nein. Leider lässt sich über die Zeit nichts Besseres und Genaueres sagen, als dass sie vergeht, dass sie verloren geht. Und das vom ersten Lebenstag an – jedenfalls, wenn man es vom Ende her betrachtet. Leben heißt, Zeit verlieren. In jeder Sekunde wird das Leben um eine Sekunde kürzer. Das ist die große und unabänderliche Kränkung des Menschseins, die schnöde Erfahrung, dass die Zeit die Herrscherin ist über alles und jeden. Keine Macht der Welt hält dieses Vergehen auf. Zeit lässt sich so wenig gewinnen, wie sie sich vertreiben oder gar totschlagen lässt. Kein Erfindergeist und kein Genius hat ein Mittel ersonnen, das die Zeit stillstehen ließe. Selbst Goethe musste die Waffen strecken und vermochte nur einen banalen Rat zu geben: „Gebraucht der Zeit, sie geht so schnell von hinnen, doch Ordnung lässt euch Zeit gewinnen.“

Ein trügerischer Rat, weil er dem schönen Schein huldigt, mit Taschenspielertricks der Zeit ein mehr an Zeit abzupressen versucht. Was nichts als Selbsttäuschung ist. Denn die Uhr tickt unerbittlich weiter, und der Zeit ist es völlig egal, wie mit ihr umgegangen wird. Sie vergeht einfach. Und die Suche nach der verlorenen Zeit wird ewig erfolglos bleiben. Sie ist so unauffindbar, wie sie unsichtbar ist. Aber immerhin: Spuren hinterlässt sie am gesamten Rest. In den Haaren, in den Augen, auf der Haut; sie lässt Häuser stürzen und Brücken, Dämme brechen, Marmor, Stein und Eisen sowieso. Der Zahn der Zeit.

Ein Schaltjahr ist also alles andere als eine geschenkte Zeit, sondern höchstens ein scheinbares Geschenk der Zeitmessung. Und selbst das ist eine Frage der Perspektive. Weil sich im ganz normalen Alltag des ganz normalen Angestellten der 29. Februar 2012 als ganz normaler Mittwoch darstellt, als ein ordinärer Werktag, als Verlängerung der Arbeitszeit ohne Entgelt. Ein Geschenk dürfte es höchstens für die Wirtschaft sein, die sich gerne zitieren lässt mit der Rechnung, jeder Feiertag koste zwei Milliarden Euro, umgekehrt dürften ihr die im Jahr 2012 nun zufließen. Einfach so. Die Engländer um 1750 haben auch nicht lange gemeckert über ihre gestohlenen Tage. Sie haben gemerkt, dass die Synchronisierung, die sie auf eine Zeitachse mit der übrigen Welt brachte, dem Handel half. Man sagt ja nicht umsonst: Zeit ist Geld. Aus dem alten Rom ist gar überliefert, dass es vor allem Bankiers waren, die sich für kurze Monate interessierten – damit sie schneller an ihre Zinsen kamen.

Davor ist man heute sicher. Heute wird Zeit mit Atomuhren gemessen. Da hat ein Tag 86 400 Sekunden. Ob sich daran etwas ändert, die Erde mal mehr oder weniger Sekunden braucht, beobachtet der „International Earth Rotation and Reference Systems Service“, und der stellt tatsächlich Unterschiede zwischen Zeitrechnung und astronomischer Zeit fest, was sich durch Einfügen von Schaltsekunden beheben lässt. Das geschah seit Mitte der 70er Jahre 24 Mal, zuletzt beim Jahreswechsel 2008/2009. Laut der deutschen Zeitmesszentrale, der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt in Braunschweig, ist die Erde seither „wieder etwas langsamer geworden, man kann gespannt sein, wie die Entwicklung weitergeht“. So ist also Zeit vor allem eins: flexibel. Auch Lichtenberg hat in seinen Trostgründen hervorgehoben, dass es bei der Geburtstagsfeierfrage der am 29. Februar Geborenen wie bei „tausend anderen Vorfällen des Lebens auf Lage und Umstände“ ankomme. Dass nämlich der am Schalttag Geborene, der mal am 28. Februar und mal am 1. März feiere, sehr richtig verfahre, während der Dogmatiker, der alle Zeitungenauigkeiten ignorierend, seinen Geburtstag am Geburtstag feiert, irrt. Daraus zieht er den Schluss, dass „man bald mit allen seinen Irrtümern für weise und bald mit aller seiner Weisheit für ein gar irriges Schaf gehalten werden“ kann.

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