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Seelenhymnen am Klavier. Agnes Obels viertes Album heißt „Myopia“.

© Lena Giovanazzi

Agnes Obel im Interview: „Ich mag Musik, die wie ein Albtraum klingt“

Agnes Obel ist der zarteste Popstar Berlins. Ein Gespräch über Kontrolle, Kopenhagen und Songwriting als Selbstschutz.

Agnes Obel wurde 1980 in Kopenhagen geboren, 2006 zog sie nach Berlin. Hier produzierte sie ihr erstes Album, „Philharmonics“, das 2010 erschien. Seitdem hat sie sich mit ihren zarten, oft melancholischen Klaviersongs und ihrem sphärischen Gesang eine große Fangemeinde geschaffen. Obels Lieder werden in den Soundtracks zahlreicher Film- und Serienproduktionen verwendet, zum Beispiel in „The Rain“ oder „Dark“. David Lynch remixte eines ihrer Stücke. Agnes Obels viertes Album „Myopia“ erscheint am 21. Februar bei der Deutschen Grammophon – und zeitgleich in den USA bei Blue Note Records. Ihr Berliner Konzert am 16. März im Admiralspalast ist bereits seit Monaten ausverkauft.

Frau Obel, Ihr neues Album erscheint in Europa bei der Deutschen Grammophon und bei Blue Note in den USA, zwei der wichtigsten Labels der Welt. Denken Sie manchmal: Jetzt habe ich es geschafft?
Um ehrlich zu sein, sehe ich die Musik immer noch nicht als Beruf. Ich kann nur sagen: Immer wenn ich Klavier spiele, fühle ich mich sicher. Wenn ich mich ein, zwei Tage zurückziehen kann, alles ruhig wird, dann sage ich zwar, dass ich „arbeite“. Aber für mich ist es, als würde ich meine Festplatte defragmentieren. Manchmal fühle ich mich, als wäre ich mehr ich selbst in der Musik als in der Realität.

Ihre Lieder sind sphärische, melancholische Klavier- und Synthesizerhymnen. Schotten Sie sich komplett ab, wenn Sie komponieren?
Das funktioniert nicht immer. Aber ich habe mein eigenes Studio, das ist ein Raum innerhalb eines größeren Raums, mit Holzboden und schallschluckenden Platten an den Wänden, darin höre ich nichts anderes. An guten Tagen habe ich eine Idee und vergesse die Zeit – und plötzlich ist es drei Uhr nachts. Nach solchen Momenten suche ich.

Das klingt einsam.
Ja, tut es. Es ist nicht so, dass ich es liebe, alleine zu arbeiten. Es ist einfach notwendig. In einem großen Studio müsste ich meine Ideen viel genauer formulieren können, wenn ich die Kontrolle behalten will. Allein kann ich einfach machen.

Warum ist das wichtig für Sie?
Jeder Klang bedeutet etwas für mich. Nicht nur: Hier ist das Schlagzeug, hier der Bass, jetzt spielen sie zusammen. Sondern: Dieser Song handelt von Wasser, also muss er sich anfühlen, als ob Dinge auf dem Wasser treiben, also versuche ich, das Klavier so zu spielen, wie Wasser fließt … Oder es geht darum, dass man verschiedene Stimmen im Kopf hat, denen man nicht traut – dann lasse ich vielleicht eine Saite klingen wie eine Stimme.

Wann haben Sie gemerkt, dass Sie so komponieren wollen?
Ich habe schon früh in Bands gespielt, mit zehn bin ich mit ein paar Kids aus meiner Schule in Kopenhagen auf Kinderfestivals oder auf der Straße aufgetreten. Mit Coverversionen: Beatles, Prince, Stevie Wonder. Später hatte ich andere Projekte, Radiohead-artiges Rockzeug oder Beatles-Sachen. Parallel habe ich immer Klavier gespielt – ich wusste nie, wie das in diese Bands passen würde. Irgendwann hat mein jetziger Mann Alex gesagt: Das, was du alleine machst, klingt viel besser als all das andere Zeug. Er hat mich dazu gebracht, ein paar meiner Songs aufzunehmen. Und als wir 2006 nach Berlin gezogen sind, hatte ich plötzlich so viel Platz in meinem Kopf.

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Was war anders als in Kopenhagen?
Viele Leute, mit denen ich Musik gemacht habe, waren schon früh sehr ehrgeizig. In Berlin ging es nie darum, einen Plattenvertrag zu kriegen oder im Radio gespielt zu werden. Es ging immer um Ideen.

Eigentlich kamen Sie ja, um zu studieren.
Ja. Ich habe hier an der Humboldt-Universität zwei Semester Kulturwissenschaft studiert. In Dänemark bekommt man Geld, wenn man studiert, sechs Jahre lang, und man muss es nicht zurückzahlen. Ich habe mich also eingeschrieben, um meine Musik zu finanzieren. Das war leichter, als in einem Café zu arbeiten.

Wann haben Sie gemerkt, dass das mit dem Studium nicht weitergeht?
Für mich ging es sofort um meine eigene Arbeit. Ich hatte all mein Studio-Equipment mitgenommen. Sobald ich das in meiner Wohnung aufgebaut hatte, fing ich an, aufzunehmen. Alex teilte sich damals mit einem Freund ein Animationsstudio im Funkhaus Nalepastraße, irgendwann konnte ich nebenan einziehen. Dort habe ich mein erstes Album geschrieben.

„Philharmonics“ kam 2010 heraus. Hat Ihnen die Abgelegenheit des Studios beim Arbeiten geholfen?
Damals war da niemand! Wir sind im Hauptgebäude mit dem Tretroller über die langen Flure zur Toilette gefahren. Ich habe mich damals total in die Stadt verliebt. Ich war frei von allem, von allen Erwartungen, wer ich sein sollte. Die Musik, die ich für mich gemacht habe, wurde plötzlich zu meiner ganzen Welt.

Sie kommen aus einer Musikerfamilie, hat Sie das geprägt?
Natürlich habe ich auch MTV geguckt wie alle anderen auch, ich mochte Trip-Hop total. „Dummy“ von Portishead kenne ich von Anfang bis Ende auswendig. Meine Mutter hat zu Hause Bartók gespielt, nicht die großen Stücke, nur die Folksachen. Sie war keine professionelle Musikerin wie mein Vater. Er spielte mir den schwedischen Jazzpianisten Jan Johansson vor – ich glaube, der hat mich beeinflusst. In dem Sinne, dass ich mit dem Klavier gern Geschichten erzähle. In den Songs, die er interpretiert hat, kann man wirklich die Tiere durch den Wald laufen hören.

Haben Sie mit Ihrem Vater musiziert?
Ja, sowohl Johansson als auch Bartók. Mein Vater hat Bass gespielt und ich Klavier. Das war eine Form der Kommunikation – aber wir haben nie über Musik geredet, sie ist einfach passiert. Meine Eltern haben sich scheiden lassen, als ich zwölf war. Danach habe ich nie wieder mit meinem Vater gespielt. Die Scheidung war schlimm für ihn, er hat alle seine Instrumente verloren.

Wollte er, dass Sie Musikerin werden?
Er hat mich indirekt gepusht. Als ich 16 war, hat er mir ein kleines PA-System gekauft. Er hat mich auch zum Gitarrenunterricht und zum Gesangsunterricht geschickt. Als ich älter war, kam er zu meinen Konzerten. Ich hoffe, dass sie ihm gefallen haben – er war nicht der Typ, der etwas dazu gesagt hätte. Es war seltsam zu spielen, wenn er im Publikum war. Ziemlich viele Songs handelten von ihm. Er ist jetzt tot. Ich kann nur raten, was er dachte.

„Jeder Klang bedeutet etwas für mich.“
„Jeder Klang bedeutet etwas für mich.“

© Lena Giovanazzi

Ihr Vater litt an Depressionen. War Musik sein Weg, damit besser umzugehen?
Ja, er hat damit eine Zeit lang gegen Depressionen angekämpft. Ich glaube bis heute, dass mein Vater nicht krank geworden wäre, wenn er immer Musik hätte machen und davon leben können. Die Musik hätte ihn geschützt. Ich habe manchmal das Gefühl, dass ich die Verantwortung habe, meine Chance zum Musizieren auch zu nutzen.

Jetzt ist Ihr viertes Album „Myopia“ erschienen. Sehen Sie Ihre Lieder als Inseln der Sicherheit in einer Welt der Unsicherheiten?
Ich finde, dass ich auch Stücke geschrieben habe, die sich nicht sonderlich sicher anfühlen – zumindest für mich. Ich mag Musik, die wie ein Albtraum klingt. Ich habe versucht, immer beides in meinen Liedern zu haben: Sicherheit und Unsicherheit.

Ihre Musik ist sehr zart und intim – trotzdem spielen Sie in ausverkauften Hallen.
Live-Auftritte sind eine Herausforderung, weil sie ein Paradox sind: Etwas beginnt mit einem privaten Gespräch zwischen mir und dem Klavier. Das muss ich dann in ein extrovertierteres Gespräch übersetzen, in ein Spektakel.

Erinnern Sie sich an ein Konzert, bei dem das besonders gut funktioniert hat?
Ich habe einmal bei einem Festival in Belgien gespielt, nur ich am Flügel und eine Cellistin. Ich habe mich gefragt, warum sie uns gebucht haben. Bei einem Rockfestival? Um neun Uhr abends? Während gleichzeitig The XX spielen? Aber dann hat das ganze Zelt mitgesungen, 20 000 Leute! Ich habe mich gefragt: Woher kennen sie überhaupt die ganzen Texte? Und das, während ich im Hintergrund die ganze Zeit den Bass von The XX hören konnte.

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