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Kultur: Ahnung und Gegenwart

KLASSIK

Der größte Gegner des Künstlers sind die Maßstäbe, die er selbst gesetzt hat. Randvoll ist die Philharmonie mit Menschen, denen Alfred Brendel im Verlauf eines halben Jahrhunderts die Musik Schuberts, Beethovens und Mozarts nahe gebracht hat, und sie alle erwarten unwillkürlich, dass der 72-Jährige noch die gleiche manuelle Frische besitzt wie in seinen zahllosen Aufnahmen – oder hoffen sogar, dass sich seine nahezu beispiellose Vertrautheit mit den Werken der Wiener Klassik zu einer mystischen Altersweisheit verklärt hat. Und es scheint, als ob Brendel selbst diesen enormen Druck spürt: in dem überstürzten Beginn von Mozarts früher B-Dur-Klaviersonate, die dann auch im weiteren Verlauf nicht mehr zur spielerischen Gelassenheit finden will. Das funkelnde Passagenwerk klingt an diesem Abend seltsam versteift, der Klang ist von der Mittellage abwärts nur noch begrenzt kontrolliert. Gerade die bleistumpfe Bass-Stimme, die immer wieder heraussticht, lastet auf dem dialogischen Wechselspiel, zieht die Bauelemente des Sonatensatzes auseinander, statt ihnen durch prägnante Akzentuierung ein Gerüst zu bieten. Die einzigartige Brendelsche Alchemie aus rhetorischer Eloquenz und Gefühlstiefe scheint nur noch für Augenblicke auf: in den kantabel aufblühenden Seitenthemen, den augenzwinkernden Schlussschnörkeln der beiden Mozart-Sonaten, auch in den gespenstischen Blicken ins Jenseits, die Schuberts drei nachgelassene Klavierstücke eröffnen. Doch das meiste bleibt erahnte Struktur unter einem nivellierenden Grauschleier, der vor allem im zweiten Programmteil über die Töne geworfen wird. Die Größe des Musikers Brendel ist freilich noch immer gegenwärtig. Der erhabene Ernst, mit dem er beispielsweise das Thema des Schlusssatzes aus Beethovens Opus 109 spielt, zeigt, was für große Interpretationen ihm in Kopf und Herzen liegt. Dass sie dort eingeschlossen bleiben, ist die eigentliche Tragik des Abends.

Jörg Königsdorf

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