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Der chinesische Künstler Ai Weiwei.

© Kai-Uwe Heinrich

Ai Weiwei und wir: Bitte weiter stören!

Der chinesische Künstler Ai Weiwei und andere Dissidenten bringen uns dazu, genau hinzuschauen. Egal, wie unbequem sie werden: Das ist im Ausland genauso wichtig wie hier. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Christoph von Marschall

Ich sehe was, was Du nicht siehst: Das ist ein Kinderspiel und zugleich so viel mehr. Es ist das Lebenselixier einer pluralistischen Gesellschaft. Der Erfolg der Demokratien im Vergleich zu autoritären Herrschaftsformen beruht ja nicht darauf, dass sie keine Fehler machen. Sondern dass sie zur Selbstkorrektur fähig sind – beileibe nicht immer und gewiss nicht oft genug, aber öfter als Diktaturen. Damit das geschieht, muss erst einmal einer kommen, der anders auf die Dinge blickt: ein Dissident. Und möglichst von einem Kaliber wie Ai Weiwei, das alle, vor allem die politischen Entscheider dazu bringt, hinzuhören, wenn er sagt: Ich sehe was, was Ihr nicht seht.

Die Bundesrepublik ist reich an Erfahrungen mit Dissidenten, vor allem aus den Jahrzehnten des Ost-West-Konflikts. Sie sind aber zugleich eine Mahnung. Künstler und Intellektuelle aufzunehmen, die von den Diktaturen in ihren Heimatländern drangsaliert wurden, war der leichte Teil. Da fühlten sich viele Bürger selbst gleich besser angesichts der Gastfreundschaft, die das eigene Land Verfolgten erwies. Willkommen waren die Dissidenten auch als Kronzeugen für die moralische Überlegenheit des Westens. Alexander Solschenizyn beschrieb in „Ein Tag im Leben des Ivan Denissowitsch“ das menschenverachtende System sowjetischer Straflager, des Gulag.

Rudolf Bahro analysierte in „Die Alternative“ detailliert, wie weit der real existierende Sozialismus der DDR vom versprochenen Gesellschaftsideal abgekommen war. Wladyslaw Bartoszewski wurde – neben dem in Polen inhaftierten Lech Walesa – zu dem in Deutschland bekannten Gesicht der Hoffnungen, die sich an die Solidarnosc, die erste freie Gewerkschaft im Ostblock, knüpften, die aber 1981 durch Ausrufung des Kriegsrechts niedergeschlagen wurde.

Edward Snowden und Julian Assange

Die Bewunderung für ihre moralische Autorität flaute jedoch ab, wenn sie sich ähnlich unorthodox wie zuvor im Ostblock über die in westlichen Intellektuellenkreisen vorherrschende Denkungsart äußerten. Solschenizyn schloss sich, zum Beispiel, nicht der Kritik am Vietnamkrieg an. Aus seiner Sicht ging es den Vietcong nicht um Befreiung von der Kolonialherrschaft, die der Unterstützung wert gewesen wäre, sondern um die Ausbreitung des Kommunismus, also eines anderen Unterdrückungssystems. Bahro blieb im Westen ein Sozialist, der folglich auch hier eine Systemalternative anstrebte: eine sozialökologische, die selbst den Grünen zu weit ging. Bartoszewski machte sich unbeliebt, als er Kanzler Helmut Schmidt Anbiederung an das DDR- Regime vorwarf, weil der nicht lautstark gegen die Verhängung des Kriegsrechts in Polen während seines Besuch bei Staatschef Honecker 1981 protestierte.

Und wie ist das vereinigte Deutschland eigentlich mit den Bürgerrechtlern der DDR umgegangen? Hat es Menschen wie Bärbel Bohley, Jürgen Fuchs, Friedrich Schorlemmer, Wolfgang Templin, die um ihrer Überzeugung willen Leid und Nachteile auf sich nahmen, angemessen geehrt – oder in Nischen weggelobt, wo ihr rebellischer Geist nicht zu sehr stört? Und hat die Gesellschaft hierzulande nicht deshalb auf die ehrende Heraushebung der Dissidenten verzichtet, weil damit die Herabsetzung der Mitläufer, also der Mehrheit, verbunden gewesen wäre? Ein Risiko in Demokratien.

Zu den Dissidenten von heute werden viele Edward Snowden und Julian Assange zählen. Man lässt sie nicht einmal einreisen, um ihre Sicht zu hören, unter Berufung auf juristische Probleme. Ein Vorwand? Rechtlich liegen ihre Fälle tatsächlich anders als die der klassischen Dissidenten. Was sie getan haben – wenn auch aus guten Gründen –, wäre auch nach deutschen Gesetzen strafbar. Und was sie uns zeigen wollen, können wir sehen: im Internet und vielen Medien.

Für Ai Weiwei gilt das nicht. Er kann uns helfen zu erkennen, was wir nicht sehen: in China und hier. Soll er uns herausfordern, unbequem sein. Beim Blick auf die Mächtigen in Peking, aber auch als Dissident im deutschen Alltag.

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