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Kultur: Akademie der Künste: Anstiftung zur Widerrede

Um außergewöhnliche Ereignisse zu bewältigen, greift die Gesellschaft zu tradierten Formen. Eine Morgenandacht zum Beispiel ist gerade in säkularen Gesellschaften, die sich seit dem 11.

Um außergewöhnliche Ereignisse zu bewältigen, greift die Gesellschaft zu tradierten Formen. Eine Morgenandacht zum Beispiel ist gerade in säkularen Gesellschaften, die sich seit dem 11. September einem religiös motivierten Feind gegenüber sehen, eine wunderbar kräftigende Angelegenheit.

In der Akademie der Künste gibt es am Sonntagmorgen im Rahmen der Mitgliederversammlung, die ganz unter dem Eindruck der Terroranschläge auf die USA steht, gleich drei Predigten zu hören. Sie sind, schließlich handelt es sich um die neue Reihe "Schriftsteller treffen Politiker", von zuweilen lutherischer Wucht. Literaturnobelpreisträger Günter Grass folgt nach einer Lesung aus "Mein Jahrhundert" gern der "Anstiftung zu einem Dialog" mit Bundestagspräsident Wolfgang Thierse, und Moderator Hans Christoph Buch hält mit seinen jüngsten Erfahrungen aus Afghanistan nicht zurück. Als Heiliger des Tages ist Willy Brandt auserkoren, der Geist und Macht hierzulande bekanntlich erstmals versöhnte.

"Warum hasst man uns?"

"Niemand kann von mir", donnert Günter Grass in den Saal, "Mitgefühl mit der amerikanischen Regierung verlangen." Es gelte vielmehr dem amerikanischen Volk, das sich wie Norman Mailer, Susan Sontag und Woody Allen frage: "Warum hasst man uns?" Die Gründe seien die "Arroganz der Macht" und eine Interessenpolitik, die die Mudschaheddin und die Contras ausbildete. "Wir müssen auf uns zurückweisen, wenn wir anklagen", folgert Grass. Im Nahostkonflikt müsse Israel das Ende der Besatzungspolitik nahe gelegt werden.

Und den Arabern die Anerkennung des jüdischen Staates, erwidert Wolfgang Thierse. Solidarität mit den USA sei nötig, Kritik auch. Ihn ärgere die Diffamierung jeder ökonomischen Erklärung. Mit dem Islam sei über die "Trennung von Kirche und Staat, Religion und Politik" zu reden. Weltsozialpolitik und kultureller Austausch müssten die Globalisierung gerecht gestalten.

Dem selbstkritischen Protestanten Grass und dem Ökumenen Thierse setzt Hans Christoph Buch gut katholisch entgegen: "Das Böse existiert!" Es sei nicht mit Geld und guten Worten zu besiegen. Er habe dem geistigen Führer der Taliban gegenüber gestanden. Diese Menschenrechtsverletzer gehörten gestürzt.

Grass warnt vor einem Militärschlag und der Verabsolutierung von Gut und Böse. "Damit begibt man sich auf die Ebene der Mullahs". "Auch die Einschränkung von Grundrechten wie in der Baader-Meinhof-Zeit besorgt deren Geschäft." "Es ist die Pflicht der Politiker", widerspricht Thierse, "die Bürger zu schützen - unter Wahrung demokratischer Rechte."

Mit dieser Kompromissformel endet die Diskussion. Und es beginnt die Litanei der Schlussworte: Grass warnt vor einer Lex Helmut Kohl im Fall der Stasi-Akten. Thierse fordert, die neuen Bundesländer zur Bildungs- und Forschungslandschaft umzubauen, um die innere Einheit zu vollenden.

Die zahlreich erschienene Gemeinde reagiert ungeduldig. Sie hat den meisten Sätzen applaudiert und mit dieser Übernahme amerikanischer Gottesdienstbräuche ein schönes Beispiel praktischer Solidarität gegeben. Aber mit der deutschen Innenpolitik möge man sie zur Andacht doch bitte verschonen.

Jörg Plath

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