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Kultur: Akademie der Künste: Leerstellen, sagt er

"Die Seite fünf ist nicht da." Der melancholisch gedehnte Takt der ungarisch-deutschen Sprachmelodie stockt und György Konrád durchsucht auf der Treppe der Akademie der Künste seine Manuskriptzettel.

"Die Seite fünf ist nicht da." Der melancholisch gedehnte Takt der ungarisch-deutschen Sprachmelodie stockt und György Konrád durchsucht auf der Treppe der Akademie der Künste seine Manuskriptzettel. Derweil lag die Seite fünf ruhig auf irgendeinem Schreibtisch - und die Treppenrede des Akademiepräsidenten hatte ein Loch.Gleichwohl schien sich in dieser lauen, langen Sonnabendnacht zur halbjährlichen Mitgliederversammlung der Akademie der Künste alles in glückliche Korrespondenz zu fügen. György Konrád sinnierte über den wissenschaftlichen und künstlerischen Un-Sinn eines Schlosses inmitten einer modernen Großstadt und pries ironisch den Vorteil einer Stadt, in der der zentrale Platz leer bleibt: "Der Fantasie einen freien Raum!"

Und der Erinnerung!, hätte er hinzufügen sollen, doch tat er das bereits wenige Stunden zuvor am Bebelplatz. Aus Protest gegen die geplante Tiefgarage unter dem Platz und die damit verbundene Untergrabung des Denkmals "Bibliothek" von Micha Ullman, das an die Bücherverbrennung an diesem Ort im Mai 1933 erinnert, zog die gesamte Mitgliederversammlung der Akademie samt Ullmann kurzerhand dorthin. Mit der zuvor verabschiedeten Bitte der Mitglieder an Bundespräsident Johannes Rau, gegen einen Bau der Tiefgarage rund um das Denkmal zu intervenieren, erreicht der Streit um den Ort der Erinnerung seinen Höhepunkt. Ullmann selbst erwägt im Falle des Baues einer Tiefgarage, seine Skulptur zurückzuziehen.

Abends in der Akademie am Hanseatenweg folgten dann die launigen Nachklänge zur ernsten Politik. Zwar sei, so Konrád in seiner "Treppenrede", das Ausfüllen der Leere ein menschliches Bedürfnis, doch "gute Werke müssen reifen. Sie brauchen Weisheit, Herzensbildung und Zeit". Vor allem Zeit. Das Verweilen, das Auf-und-ab-Schlendern bezeichnete der Schriftsteller, der Ende des Monats den Aachenr Karlspreis erhaält, denn auch als wichtigstes Ausbauprojekt der Berliner in ihrer gar nicht mehr so leeren Stadtmitte.

Immerhin wird auch die Akademie der Künste im nächsten Jahr ihren Neubau am Pariser Platz beziehen, was neben dem Engagement des Hauses gegen Rechtsradikalismus ein weiteres Thema der zweitägigen Mitgliederversammlung war. Das Hin und Her, der Streit, so Konrád am Abend, sei immer das Wichtigste und war, diese Polemik verkneift er sich nicht, auch am Holocaust-Denkmal das Beste. Darin bleibt der Präsisdent konsequent unpragmatisch. Oder konsequent Künstler. Denn dass es nur in der Kunst möglich ist, Leerstellen zu bewahren, indem man sie überschreibt, zeigte die Akademie selbst in ihrer "langen Nacht".

Eigentlich deutete nichts darauf hin, dass die Mitgliederversammlung aus Diskusion und Protest und ihr Rahmenprogramm aus Gedichten, Kunst und Theater zueinander passen würden. Doch erschienen plötzlich alle Leerstellen, wie die zufällige in Konráds Rede, auch als Bausteine. Diese geheime Dialektik durchzog alle Veranstaltungen.

Sie empfing den Besucher in den flächigen, an den Rändern amöbenhaft ausbeulenden Aluminiumskulpturen von Anne Hille: metergroße Gebilde, die in kein Bild gehören, sondern sich einfach ihren Platz nehmen. Sie sprach sprach aus den Gebärden einer Gehörlosen-Theatergruppe, die ihre stille, schrille Bühnensprache vorstellte und dem Gebärdenanalphabeten doch nur zeigte, dass etwas unüberhörbar fehlte: die Stimme. Und sie durchzog die Sprachformen der Liebe, die Jutta Lampe aus Reinhard Baumgarts "Liebesspuren" vortrug. Ihr Lesen gab an diesem Abend vielleicht die tiefste Ahnung davon, wie vielsagend Leerstellen sein können.

Doris Meierhenrich

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