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Albert Schweitzer

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Albert Schweitzer: Der Doktor der Deutschen

Vor 100 Jahren hat Albert Schweitzer das Tropenhospital Lambaréné gegründet. Freundeskreise läuten ein Jubiläumsjahr ein, auch in Berlin. Doch im Mythos des Tropendoktors finden sich immer noch zahlreiche Lücken und Leerstellen.

Von Caroline Fetscher

Er nannte seinen Pelikan Parsifal, liebte Bach und Wagner und spielte die Orgel. Er pflanzte Obst und Gemüse, trug einen Tropenhelm auf dem Kopf und einen schwarzen Säugling auf dem Arm und warnte die Welt vor dem Atomkrieg. So sahen die Bilder aus, die sich Deutschlands Öffentlichkeit in den fünfziger und sechziger Jahren von ihrem Helden, dem Tropendoktor Albert Schweitzer, machte. Millionenfach repräsentierten Fotografien und Anekdoten den väterlichen Freund der Tiere und medizinischen Retter, da draußen, irgendwo in Afrika. Wo die Väter gefehlt hatten, im Sinn von Verfehlung wie im Sinn von Abwesenheit, da entstanden die Repräsentationen von „Albert Schweitzer“. Symbolisch füllten sie eine klaffende Lücke in der vaterlosen Gesellschaft, der sie zugleich den imaginären Ort eines pausenlosen, tröstlichen Heilungsszenarios lieferten: „Lambaréné “.

Vor hundert Jahren, Ende März 1913, legte in Bordeaux der Ozeandampfer Europa ab, der den jungen Theologen, Philosophen, Organisten und Mediziner in Begleitung seiner Frau Helene erstmals an den Ort seines Wirkens in Westafrika brachte. Heute feiern Schweitzer-Freundeskreise den Geburtstag des großen Doktors der Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg und zugleich den Auftakt zum 100-jährigen Jubiläum des noch immer existierenden Tropenspitals. Ein deutsches „Albert-Schweitzer-Jahr“ wird eingeläutet, unter anderem mit einem Gedenkgottesdienst in der Berliner Gedächtniskirche.

Die protestantische Missionsstation Lambaréné lag in der Nähe eines kolonialen Handelspostens gleichen Namens am Fluss Ogowe, der in Gabun in den Golf von Guinea mündet. Gegründet wurde die Station 1876, ein Jahr nach Schweitzers Geburt, von einem amerikanischen Missionar und Arzt; seit Ende des 19. Jahrhunderts war sie in Händen von Missionaren aus Frankreich, der Schweiz und dem Elsass. Wie so viele Missionskollegen schrieb Schweitzer seine tropischen Erlebnisse auf, um Spender zu gewinnen. Die Schriften machten ihn schon in den Zwanzigern bekannt – berühmt wurde er mit ihnen, als er schon fast ein Greis war, etwa ab 1949. Er tat den Deutschen in West wie Ost auch den Gefallen, die Pogrome und die Schoah nie zu erwähnen. Wohlwollend legen seine Gemeinden ihm das beharrliche Schweigen als demonstrativen Protest aus. Dabei hätte er vieles sagen können.

Die Ärzte, mit denen er Lambaréné während des Zweiten Weltkriegs betrieb, waren Juden, seine Frau Helene die Tochter des jüdischen Mediävisten Professor Harry Bresslau. Ihre beiden Biografien sollten die Berliner ihrem Gedächtnis hinzufügen. Als Helene 1879 zur Welt kam, die Familie lebte in der Schöneberger Maaßenstraße 18, veröffentlichte der Historiker Heinrich von Treitschke in den „Preußischen Jahrbüchern“ einen von Bismarcks Einigungspolitik hingerissenen Aufsatz, der den Satz „Die Juden sind unser Unglück“ prägte. Bestürzt suchten akademische Kollegen wie Bresslau, Treitschkes Argumente zu widerlegen. In einem „Sendschreiben“ an Treitschke, das er 1880 publizierte, pries Bresslau die Verdienste jüdischer Deutscher um Kultur und Vaterland. Familie Bresslau ließ die Kinder taufen und floh aus Preußen ins liberalere Elsass.

Als Helene Schweitzer, bedroht von Deportation und Mord, 1941 über Portugal und Angola nach Lambaréné entkam, schrieb sie in einem Brief, jetzt würde sie gerne das Sendschreiben ihres Vaters lesen. Ihr Mann schien sich dafür nie interessiert zu haben. Den Mythos Schweitzer brachte nicht nur eine Lücke hervor. Er selber enthält Dutzende bedeutender Lücken, die es erst zu entdecken gilt.

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