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© NFP

Albert Schweitzer: Galionsfigur des Guten

Politik und Humanität: Albert Schweitzer als Kinoheld – und neue Bücher über seine ambivalente Persönlichkeit.

Von Caroline Fetscher

Jeder könne es haben, „sein eigenes Lambaréné“! Mit diesem emphatischen Ausruf des betagten Tropendoktors endet der Spielfilm, der zu Weihnachten in die deutschen Kinos gelangt. Hier bei uns in Deutschland erlangte Albert Schweitzer, schon zu Weimarer Zeiten eine Berühmtheit, nach dem Zweiten Weltkrieg geradezu mythische Dimensionen. Jetzt soll er mithilfe eines Films und mehrerer Publikationen ein weiteres Mal auferstehen.

In schwindelerregender Geschwindigkeit saust das Kameraauge eine tropische Flusslandschaft entlang. Aus der Adlerperspektive sucht und findet das Publikum, begleitet von Bachs C-Dur-Präludium, sein Ziel: Eine bescheidene Hüttensiedlung am Ufer. Lambaréné. An dem zentralafrikanischen Ort im Dschungel des heutigen Gabun wirkte der Mann: Albert Schweitzer. Wir sehen den weißen, schnauzbärtigen Doktor (Jeroen Krabbé) mit Tropenhelm durch die quirligen Gassen seines Krankendorfes schreiten, er grüßt in bunte Tücher gewandete, heitere Afrikaner und sieht Augenblicke später nach einer schwarzen Patientin. Gefilmt wurde all das in Südafrika, wo Lambaréné originalgetreu nachgebaut wurde.

Einst sei Schweitzer „so berühmt und beliebt“ gewesen wie heute Nelson Mandela, sagt der Regisseur Gavin Millar („Luther“), doch heute sei er kaum noch bekannt. Daher drehte er das aufwendige Opus „Albert Schweitzer – Ein Leben für Afrika“. Tatsächlich wussten Hunderttausende von Schulkindern, Lehrern und Pfarrern in den fünfziger Jahren Schweitzers Werdegang auswendig: Theologe, Philosoph, Mediziner, Autor und Organist, Tierschützer und Warner vor der Atombombe. Geboren 1875 im Elsass, von dort 1913 losgezogen, um dem „kranken Lazarus“ im tiefsten Dschungel Beistand zu leisten und seine „Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben“ zu leben.

Für die moralisch insolvente, „vaterlose“ Gesellschaft Nachkriegsdeutschlands war das große Narrativ „Schweitzer und Afrika“ ein Balsam, den sie sich selber verschrieb. Ab etwa 1949 expandiert das bis ins Kultische und erreicht um die Mitte der fünfziger Jahre seinen Gipfel. Bis dahin hatten Kinder- und Jugendbücher über Schweitzer in Afrika, Gemeindeblätter und Zeitschriftenartikel, Konfirmandenbroschüren, Filme, Radiosendungen über den „weißen Oganga“ (zentralafrikanischer Begriff für Medizinmann) ein Millionenpublikum erreicht. Schweitzer wurde zum Inbegriff der Güte und zur Leinwand für zahllose Projektionen, woran Hunderte von Straßennamen und Schulnamen erinnern.

Nach seinem Tod 1965 schrumpfte der Schweitzer-Kult auf vereinzelte Inseln von Freundeskreisen und Gemeinden zusammen. In Afrika setzte die Entkolonialisierung ein, in Deutschland wurden Studenten unruhig, und unangenehme Fragen zur jüngsten Vergangenheit drängten ans Licht. In Jugendzimmern wurden Albert Schweitzers Porträts gegen Che Guevaras oder Jean-Paul Sartres ausgetauscht (Sartre war übrigens ein Sohn von Schweitzers Cousine Anne Marie Schweitzer).

Unbemerkt allerdings waren schon im Dschungel latente Quellen für viele der Strömungen entsprungen, die später folgten. Denn Schweitzer lieferte – neben seinem entlastenden Bild und Vorbild eines „guten Deutschen“ – auch präpolitische Kernfiguren etwa der Friedensbewegung, der Dritte-Welt-Solidarität, des Ökotrends und der Antiatom-Kampagnen.

Um dem Drehbuch der neuen Kinogeschichte einen Schuss Politthriller zu verleihen, konstruiert es eine fiktive Spionagehandlung, die den alten Stoff neuen Rezipienten schmackhaft machen soll. Das Drehbuch von James Brabazon, als romanhafte Nacherzählung von Guido Dieckmann soeben im Aufbau-Verlag erschienen, setzt dabei primär auf antiamerikanische Affekte. Als der Friedensnobelpreisträger Schweitzer, von Barack Obama in dessen Nobelpreisrede als „Gigant“ des Friedens erwähnt, seine zittrige, von elsässischem Dialekt geprägte Stimme erhob, um gegen die Atomtests im Kalten Krieg zu protestieren, geriet er unter Verdacht, mit der Sowjetunion zu sympathisieren. Bekannt ist das seit Mai 1995, als das „Bulletin of the Atomic Scientists“ publik machte, dass die Administration Eisenhower damals unter anderem diskretes Interesse an Schweitzers privater Korrespondenz entwickelt hatte.

Während also der neue Kino-Urwalddoktor hemdsärmlig Orgel spielt oder schwarze Patienten behandelt, führen anonyme Herren irgendwo in Washington nichts Gutes im Schilde. Sie setzen dem Atomgegner eine Laus in den Pelz, einen angeblichen Unterstützer, der Missstände im Spital auskundschaften soll, um Schweitzer zu desavouieren. Aber auch Afrikaner bedrohen die Oase der Nächstenliebe im Urwald. Dem aufstrebenden Politiker Louis Ngouta (Patrice Naiambana) ist sein Studium in Oxford zu Kopfe gestiegen. Anders als die schwarzen Patienten und Spitalassistenten im Film ist der politisierte Afrikaner kein Stück dankbar für Schweitzers Werk, sondern will die in seinen Augen koloniale Institution schließen, um ein modernes, staatseigenes an seine Stelle zu setzen.

Dieser Plan misslingt, der üble Amerikaner wird enttarnt, so dass am Schluss singende und trommelnde schwarze Naturkinder ihren weißen Doktor umtanzen dürfen. Didaktisch, konstruiert und seltsam ideologisch kommt der Film daher. Noch die Familienszenen wirken gestelzt und gestellt, in denen Schweitzers Ehefrau Helene (Barbara Hershey) und Tochter Rhena (Jeanette Hain) Kritik am „Großtyrann der Nächstenliebe“, wie der „Spiegel“ einmal schrieb, üben, weil er beide über Jahre allein ließ. Mit keinem Wort erwähnt der Film, analog zur damaligen Rezeption, dass Helene Schweitzer aus einer jüdischen Familie stammte und Schweitzer sich auch nach 1945 so gut wie nie öffentlich zu Antisemitismus wie Nationalsozialismus geäußert hat.

Eine rare Ausnahme bildeten einige Sätze Schweitzers in einem knappen Vorwort zur amerikanischen Ausgabe von Rolf Hochhuths Theaterstück „Der Stellvertreter“ (1963). Dort kritisierte Schweitzer die Kirchen, insbesondere die katholische, die in seinen Augen „die größere Schuld trägt“, für mangelnden Widerstand gegen die „inhumane Verfolgung der Juden“. Dem deutschen Publikum mutete er solche Aussagen niemals zu. Klarer äußerte sich Schweitzer zu den „Negern“, deren Rückständigkeit und Trägheit. Dem verblüfften Adenauer erklärte Schweitzer im Februar 1959 vertraulich seine Affinität zur Apartheid: „Die einzig richtige Politik betreibt Südafrika.“ Für Demokratie sei „das Naturkind“ nicht geschaffen, war Schweitzer generell überzeugt, Unabhängigkeit werde Afrikas Staaten ruinieren.

Wenig zu derlei Seiten des Idols findet sich auch in Friedrich Schorlemmers neuer Biografie „Albert Schweitzer. Genie der Menschlichkeit“ (Aufbau-Verlag, Berlin, 255 Seiten, 22, 95 Euro), die großenteils mit farbigen Aufnahmen aus dem Kinofilm illustriert wurde. Ein differenzierteres Bild zeichnet Nils Ole Oermanns „Albert Schweitzer. Eine Biographie“ (Beck Verlag, München, 576 Seiten, 24,90 Euro). Wie die ausgezeichnete Biografin Helene Schweitzers, Verena Mühlstein, von der man jenseits der Hagiografien bisher am meisten erfahren konnte, suchte Oermann neue Quellen und zeigt eigenständiges Forschungsinteresse ohne allzu viel Furcht vor dem Mythos und dessen Tabus.

In Millars Film allerdings ist diese Furcht ein unsichtbarer Hauptakteur, sie scheint durch alle Szenen mitzuwandern, drohend mit heiligem Zeigefinger: Wehe ihr rührt an der Büste des weißen Tropendoktors! Von der prekären „Vergessenheit“ aus, in die es geraten zu sein schien, wirkt das Narrativ weiter.

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