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Eine jüdische Ladenfront am 10. November 1938, nach der Zerstörung durch Nazis.

© picture alliance / dpa

Alexander Boschwitz’ Roman „Der Reisende“: Flucht ohne Ausweg

Wiederentdeckt: Ulrich Alexander Boschwitz’ Roman „Der Reisende“ erzählt vom Schicksal der Juden nach der Pogromnacht.

Entkommen ist unmöglich, was vielleicht geht: noch einmal davonzukommen. Berlin am 9. November 1938, die Reichspogromnacht hat begonnen. Synagogen brennen, Juden werden auf offener Straße verprügelt, in ihren Wohnungen überfallen, manchmal totgeschlagen, in Konzentrationslager verschleppt.

Einer von ihnen heißt Otto Silbermann. Als es bei ihm klingelt, Fäuste gegen die Tür hämmern, mehrere Stimmen brüllen: „Aufmachen, Jude, aufmachen“, schlüpft er im letzten Moment durch einen Hinterausgang. Unten im Treppenhaus steht ein Mann. Silbermann drückt seinen Rücken durch, läuft ihm entgegen und bittet um Feuer. Der Mann reicht ihm ein Paket Streichhölzer, zündet eines an und fragt: „Bitte, wohnen hier eigentlich viele Juden?“ „Keine Ahnung“, entgegnet Silbermann. „Fragen Sie doch den Portier. Ich bin hier fremd.“ Dann verabschiedet er sich mit dem deutschen Gruß: „Heil Hitler.“

Davongekommen, nicht entkommen. Ulrich Alexander Boschwitz’ Roman „Der Reisende“ handelt von einer Flucht ohne Ausweg. Sein Held, eben noch ein wohlhabender Kaufmann mit großbürgerlicher Wohnung, kultivierter Ehefrau und Hausmädchen, wird plötzlich zum Aussätzigen, zu einem Menschen, der verzweifelt alles tut, um das zu retten, was ihm noch bleibt, sein Leben. „Wie schnell das geht“, denkt er, als er vor seinem Haus steht. „Mir ist der Krieg erklärt worden, mir persönlich. Das ist es. Eben ist mir endgültig und wirklich der Krieg erklärt worden und jetzt bin ich allein – in Feindesland.“

Bloß wegkommen, rauskommen

Feindesland, das war Deutschland für Boschwitz längst geworden. Der Sohn eines jüdischen Kaufmanns, 1915 in Berlin geboren, emigrierte 1935 über Schweden und Frankreich nach England. Seinen zweiten Roman veröffentlichte er 1939 unter dem Pseudonym John Grane in London, der Titel lautete: „The man who took trains“. Dass dieser Text nun, fast 80 Jahre später, erstmals in deutscher Sprache erscheint, ist eine kleine Sensation. Denn von einem Buch, das aus der Innenperspektive und im gehetzten Stakkato eines Thrillers über die Verfolgung der Juden kurz vor dem Zweiten Weltkrieg berichtet, hatte man bislang nichts gewusst.

Das Autorenfoto zeigt einen jugendlich, fast noch kindlich wirkenden Mann mit zurückgebürstetem blonden Haar. Sein Held trägt autobiografische Züge. Silbermann sieht nicht aus wie ein Jude, nicht so, wie Antisemiten sich einen Juden vorstellen. Abgesehen von seinem Namen könnte er als so genannter Arier durchgehen. Ein physiognomischer Glücksfall, der ihm auf der Flucht als Tarnung dient. Manchmal verschwindet darin auch seine Barmherzigkeit.

Als Silbermann einen Bekannten namens Hamburger trifft, der wegen seiner äußeren Erscheinung schon von Hitlerjunge auf der Straße geohrfeigt wurde, zischt er ihn an: „Sie kompromittieren mich.“ Zunächst möchte der Reisende bloß wegkommen, danach versucht er rauszukommen. Vom Bahnhof Zoo aus fährt er nach Hamburg, von dort zurück nach Berlin, nach Dortmund und Aachen, nach Küstrin, wieder nach Berlin. „Ich bin überhaupt schon ausgewandert. Ich bin in die Deutsche Reichsbahn emigriert. Ich bin nicht mehr in Deutschland.“ Stimmt nicht. Es gibt kein Mauseloch, durch das Silbermann entkommen könnte.

Für Boschwitz gab es kein Happy End

Die Reichsbahn ist sein Gefängnis. Sein Kompagnon, ein ehemaliger Kriegskamerad, der eben noch versicherte, dass Silbermann für ihn „ein deutscher Mann, kein Jude“ sei, speist ihn mit 40 000 Reichsmark für die gemeinsame, millionenschwere Firma ab. An der Grenze wird er von Gendarmen zurückgeschickt: „Es können nicht alle nach Belgien kommen!“ Und der Schwager in Küstrin, bei dem Silbermanns nichtjüdische Frau untergekommen ist, sagt: „Ich kann doch meine Existenz nicht vernichten, um dich bei mir wohnen zu lassen.“ Deutschland 1938, das ist: „Brutalität plus Romantik. Ignoranz plus Anmaßung.“

Silbermann wird zum Untergeher, schlaflos und gehetzt schraubt er sich in einen psychischen Zustand hinein, der an die Helden amerikanischer Hardboiled-Krimis der vierziger Jahre erinnert. Heimat und Heim hat er verloren, ortlos geworden gleicht er einem Phantom. Silbermann ist wie eingesperrt in seine fragenden, kreisenden Gedanken: „Soll das ewig so weitergehen? Warum wird man nicht festgehalten, verhaftet, verprügelt?“

Auch für Ulrich Alexander Boschwitz gab es kein Happy End. Als „feindlicher Ausländer“ in England interniert und nach Australien verlegt, befindet er sich an Bord eines Passagierschiffes, das 1942 von einem deutschen U-Boot torpediert wird. Der Schriftsteller stirbt mit 27 Jahren. Man hätte gerne noch mehr Romane von ihm gelesen, vom Entkommen und vom Überleben.

Ulrich Alexander Boschwitz: Der Reisende. Roman. Herausgegeben und mit einem Nachwort von Peter Graf. Klett-Cotta, Stuttgart 2018. 304 S., 20 €.

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