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Alexander Solschenizyn: Der große weise Mann am Rande der Stadt

Sein Leben spiegelte die Zwiespältigkeit Russlands. Heute wird er beerdigt.

„Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch“: Das war ein Schlaglicht, ein zuckender Blitz, der für einen Moment die Düsternis erhellte, über die nur geschwiegen oder im engen Kreis der Freunde oder der Familie gemunkelt wurde: die Welt des Archipel Gulag, das Schicksal der unschuldig Verurteilten, die brutale Macht der Kriminellen, die jene mit stalinistischer Willkür in die Lager verbannt hatte.

Alexander Solschenizyn war nicht der einzige Schriftsteller, den das Geschehen zur literarischen Aufarbeitung zwang. Aber sein Roman durfte in den knappen Jahren des Chruschtschow’schen Tauwetters erscheinen. Wassili Grossmann zeichnete in den fünfziger Jahren in seinem großen Werk „Leben und Schicksal“ ein atemberaubendes Panorama vom Kriegsgeschehen, Gulag, Parteiintrigen und GeheimdienstGrausamkeit. Das Manuskript wurde nach einer Denunziation des Verlags vom KGB beschlagnahmt, Grossmann zerbrach an der Engstirnigkeit seiner Zeit und starb kurz darauf.

Solschenizyn musste sein Land zunächst nicht verlassen. Ausgewiesen wurde er 1974; nach einer Zwischenstation in Deutschland zog er sich in die Wälder von Vermont zurückzog. Ein Einzelgänger, dessen Analyse der russischen Geschichte und der Herrschaft der kommunistischen Ideologie viel grundsätzlicher ausfiel. Unter denen, die sich aus dem Ausland kritisch zu Wort meldeten, hatte er eine Sonderstellung. Den meisten Russen waren Dissidenten wie Andrej Sacharow oder Jelena Bonner näher, die auch radikal dachten, aber weniger fundamentalistisch. Natürlich gelangten Solschenizyns Bücher wie „Der Archipel Gulag“ ins Land, natürlich sprach man über ihn, aber es blieb eine Distanz zwischen ihm und den kritischen Intellektuellen.

Seine Heimkehr wurde ebenfalls mit Befremden aufgenommen, diese mit ungewöhnlichem Aufwand zelebrierte Zugreise. Zumal sich abzeichnete, dass seine Vorstellungen vom nachkommunistischen Russland tief in der russischen Geschichte verwurzelt waren und er einem demokratischen Weg nach westlichem Vorbild misstrauisch gegenüberstand. So zog er sich auch in Moskau zurück; von seiner Villa am Stadtrand aus wurde er zum kritischen Beobachter des Verfalls der russischen Gesellschaft in den neunziger Jahren. Er wurde nicht belächelt, nicht ignoriert, aber er war eine Randerscheinung. Argwöhnisch achtete man auf antisemitische Untertöne in seinen Essays. Dass er den Orden von Boris Jelzin ausschlug, trug ihm jedoch Respekt ein, auch bei den einfachen Bürgern.

1998 feierte er seinen 80. Geburtstag im Taganka-Theater, das sich ja der Moderne verschrieben hatte, es war ein großartiger Ort. Das Fest wurde zum Höhepunkt von Solschenizyns Popularität, befand er sich doch in Opposition zu Jelzin, zum damaligen Establishment und zu dem, was gerade als Reformweg Russlands proklamiert wurde. Außerdem stieg die Zahl der Intellektuellen, die seinen Pakt mit Putin guthießen; ihr Kreis wuchs in dem Maß, in dem sie sich mehr zu großrussischen Positionen bekannten. Mit der Erstarkung dieses Lagers gewann Solschenizyn am neuen Hofe großes Ansehen; entsprechend wurde das Lager der Demokraten, die ihm kritisch gesinnt waren.

Solschenizyns Leben, vor allem seine letzten Jahre, spiegeln die Janusköpfigkeit Russlands. Mit der Besinnung auf einen eigenen russischen Weg, die eigene Tradition und Kultur, einschließlich der Hinwendung zur Orthodoxie, geht die Geringschätzung der demokratischen und rechtsstaatlichen Werte des Westens einher. Sein Einfluss auf die Tagespolitik ist in den letzten Jahren gering gewesen. Er war vielmehr eine Figur des 19. Jahrhunderts, an der sich die Debatte „Sind wir Slawen? Sind wir Westler? Wer sind wir eigentlich?“ immer wieder neu entfachte.

Alexander Solschenizyn war der große weise Mann am Rande der Stadt, der nur vom Berg herabstieg, wenn es galt, sich mit Putin zu treffen, und der seine sonstigen Tage abgewandt vom Leben verbrachte. Russland verliert in ihm einen eigenständigen Denker, einen Mahner, der über Jahrzehnte unbeirrt an seinem Kurs festhielt. Sein Denkmal wird bleiben.

Der Journalist Dirk Sager, 67, hat im Zeitraum von 1980 bis 2004 insgesamt 17 Jahre das ZDF-Studio in Moskau geleitet.

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