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Auf zur vierten Amtszeit. Wahlplakate von Abdelaziz Bouteflika in Ain Ouassara, südwestlich von Algier.

© Louafi Larbi/Reuters

Algerien vor der Wahl: Friedenspreisträger Sansal: „Der Westen will keinen Frühling“

Algerien steht vor der Zerreißprobe. Vor der Präsidentenwahl spricht Friedenspreisträger Boualem Sansal im Interview über die bizarre Situation seines Landes - und fordert einen "algerischen Frühling".

Monsieur Sansal, als Sie 2001 Algeriens Staatspräsident Abdelaziz Bouteflika öffentlich einen Gauner nannten, wurden Sie aus dem Industrieministerium entlassen. Bouteflika stand damals am Beginn der ersten Amtszeit. Mittlerweile rüstet er sich zu seiner vierten. Von den rund 100 Kandidaten sind nach der Vorrunde nur noch sechs im Rennen. Wer wird am Donnerstag den Wahlsieg davontragen?

Niemand ist Prophet im eigenen Land. Meine Landsleute haben mir meinen Angriff auf Bouteflika damals sehr verübelt. Sie hatten sich von ihm einwickeln lassen, wie die westlichen Regierungen, die in ihm einen arabischen Gorbatschow sahen. Außerdem hatte er Erdöl und ein dickes Scheckheft. Drei Amtszeiten später sieht es schlimm aus. Bouteflika hat das Land politisch, wirtschaftlich und vor allem moralisch ruiniert. Wenn über hundert Leute für das Amt des Präsidenten kandidieren, kann das nur heißen, dass Anstand und Moral auf dem Tiefpunkt sind. Redliche Kandidaten hätten versucht, sich um eine glaubwürdige Leitfigur herum zu gruppieren, um Bouteflika zu verjagen und eine neue algerische Republik zu gründen, einen Rechtsstaat.

Sie glauben also nicht an einen Machtwechsel?
Wir erleben eine wilde Jagd nach der Macht. Die Kandidaten haben sich gesagt: Der Präsident ist krank und wird bald sterben, die Armee gespalten und korrupt, jetzt wollen wir mal profitieren. Aber Bouteflikas Gesundheitszustand verbessert sich, und der Clan, den sein Bruder Saïd führt, ist auf der Hut. Seit 2013, als Bouteflika lange in einem französischen Krankenhaus lag, steht das Land unter der Fuchtel dieses Bruders sowie der Armeechefs und Geheimdienstbosse. Bouteflika wird also eine vierte Amtszeit antreten, doch ohne wirklich zu regieren. Die westlichen Regierungen haben nichts dagegen, sie wollen keinen „Arabischen Frühling“ mehr.

In Gestalt von Khalida Toumi haben Sie bereits eine Kulturministerin. Hat Louisa Hanoune, die sich als einzige Frau um die Präsidentschaft bewirbt, eine Chance?
Noch nie in der Geschichte der arabo-islamischen Welt lag die oberste Macht im Staat bei einer Frau. Das war undenkbar und wird es noch lange bleiben. Die Organisation der patriarchalisch und tribal geprägten Gesellschaft, ihre Kultur, ihre Traditionen und vor allem ihre Religion erlauben es nicht. Andererseits hatten auch die USA in der langen Reihe ihrer 44 Präsidenten von George Washington bis Barack Obama bisher keine einzige Frau. Khalida Toumi ist übrigens eine Dame von Mittelmaß; sie gibt sich damit zufrieden, Bouteflika und seinem Bruder zu dienen.

In der augenblicklichen Endphase des Wahlkampfs kommt es zu Unruhen im ganzen Land – außer in Bouteflikas Hochburg, dem Oranais. Sie scheinen entlang ethnischer und tribaler Konfliktlinien zu verlaufen. Steht das Land vor einer Zerreißprobe?
In Algerien geht es das ganze Jahr über rund, täglich wird demonstriert und gestreikt. Ethnische Konflikte kochen hoch, und es kommt zu Bauernaufständen. Doch nicht eine dieser Bewegungen ist von nationalem Ausmaß. Keine geht über den örtlichen, berufsständischen, ethnischen Rahmen hinaus. Die einzigen Phänomene, die Land und Regime auf Dauer destabilisieren könnten, sind Wirtschaft und Religion.

Warum tun sie es nicht?
Die Versorgungsengpässe und die Korruption hatten zu den Revolten vom Oktober 1988 geführt. Heute hat die Regierung Milliarden von Dollar zur Verfügung und erkauft sich den sozialen Frieden, indem sie das Geld zum Fenster hinauswirft. Die Algerier haben gelernt, auf Kredit zu leben und wie die Amerikaner zu konsumieren. Auch die Religion hätte das Zeug, das Land neuerlich ins Chaos zu stürzen, aber die zu Zeiten des Bürgerkriegs getroffenen Sicherheitsvorkehrungen verhindern das.

Boualem Sansal: "Wir brauchen einen algerischen Frühling."

Boualem Sansal begann seine literarische Karriere erst mit 50 Jahren.
Boualem Sansal begann seine literarische Karriere erst mit 50 Jahren.

© picture alliance / dpa

Und der Einfluss des Auslands? Was verleitete US-Außenminister John Kerry Anfang April zu einem Blitzbesuch bei Bouteflika?
Solche Besuche sind ein Geschenk des Himmels für Bouteflika, der auf der Weltbühne völlig isoliert dasteht. Sie geben seinen Propagandadiensten die Gelegenheit zu verkünden, dass seine Meinung bei den Mächtigen dieser Welt gefragt ist. Die Realität ist anders. Diese Besuche gelten den Armee- und Geheimdienstchefs, von denen man erfahren möchte, wie sie die großen drängenden Themen angehen wollen: die Frage der Islamischen Heilsfront (FIS) und des Terrorismus, die Erdölvorkommen. Nach den Erfahrungen mit Ägyptens Präsidentschaftskandidat Sisi will man wissen, wer in Algerien bereitsteht.

Wie soll Algerien aus dieser Sackgasse herauskommen?
Wir brauchen einen wahren algerischen Frühling. Der vom Oktober 1988 war eine Katastrophe, er ist zum Bürgerkrieg ausgeartet. Die arabische Welt müsste mit einem Schlag all jene Revolutionen durchführen, die den Westen aus dem Mittelalter in die Postmoderne geführt haben – auf philosophischem, religiösem, wissenschaftlichem, wirtschaftlichem und sexuellem Gebiet. Diese Transformationen sind bisher ausgeblieben.

Auch einer Ihrer Schriftstellerkollegen, Yasmina Khadra, hatte für das Präsidentenamt kandidiert. Warum haben Sie selbst nie erwogen, sich aufstellen zu lassen?
Ich finde Yasmina Khadras Engagement sehr gut. Er brachte einen neuen Stil in die politische Debatte. Er war natürlich nicht weltfremd, er wusste, dass man ihm den Weg versperren würde. Doch ich bedaure, dass er sich aus der Kampagne völlig zurückgezogen hat; er hätte sich weiterhin zu Wort melden können. Ich für meinen Teil habe ein Engagement gewählt, das auf Werten wie Demokratie, Frieden, Laizität oder der Frauenemanzipation beruht. Ich brauche keine politische Partei, um mich zu artikulieren.

Wie hoch wird die Wahlbeteiligung sein?
Bei den letzten Wahlen im Jahr 2009, bei der Bouteflika ein drittes Mandat einfuhr, nachdem er zuvor die Verfassung gebeugt hatte, die die Zahl der Mandate auf zwei begrenzte, lag die Wahlbeteiligung unter 20 Prozent. Wenn man das Desinteresse der Algerier an der Kampagne für Bouteflikas vierte Amtszeit sieht, würde ich sagen, dass die Wahlbeteiligung unter 10 Prozent liegen wird.

Wird die Regierung das zugeben?
Die offiziell verkündeten Zahlen werden natürlich eines Bouteflika würdig sein, sie werden wie üblich über 90 Prozent liegen. Die wirklich spannende Frage ist allerdings: Werden die Algerier sich einmal mehr von einem kranken, impotenten Alten überfahren lassen? Werden sie das Wahlergebnis anfechten? Ein paar Protestdemos dürfte es geben, aber ohne jede Konsequenz. Die Regierung wird Lohnerhöhungen in Aussicht stellen – das wird es gewesen sein.

Boualem Sansal, 1949 in den Bergen von Oran geboren, begann seine literarische Karriere erst mit 50 Jahren. Der Schwur der Barbaren, der erste Roman des Ingenieurs und Ökonoms, wurde bei Gallimard in Paris veröffentlicht. 2011 wurde er mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet. In seinem gesamten Werk setzt er sich mit der traumatischen Situation in Algerien auseinander. Im Frühjahr 2009 erschien sein Roman "Das Dorf des Deutschen" in seinem deutschen Verlag Merlin. Zuletzt erschien von ihm der Essay „Allahs Narren“.

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