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Geige und Klavier. Alina Ibragimova und Cédric Tiberghien.

© Askonashol

Alina Ibragimova und Cédric Tiberghien: Eine irrsinnige Kraft des Ausdrucks

Aufeinander hören, dass müssen alle Musiker. Doch wie Alina Ibragimova und Cédric Tiberghien im Pierre Boulez Saal miteinander konzertieren, geht weiter über das Übliche hinaus.

Stimmen die Berichte, dann ist Mozarts Sonate für Violine und Klavier B-Dur KV 454 unter Umständen entstanden, die „hektisch“ zu nennen deutlich untertrieben wäre: erst am Vorabend der Uraufführung 1784 – in Anwesenheit von Kaiser Joseph II. –  soll Mozart den Violinpart seiner Partnerin und Auftraggeberin übermittelt haben, der Geigenvirtuosin Regina Straniasacchi. Für seine eigene Klavierstimme reichte die Zeit nicht mehr, er improvisierte sie im Konzert, fasste sie erst danach in Schriftform. Es funktionierte, die beiden müssen sich traumwandlerisch verstanden haben. Eine Ahnung davon, wie das geklungen haben könnte, bekam man jetzt im Pierre Boulez Saal. Geigerin Alina Ibragimova und ihr langjähriger künstlerischer Partner, der Pianist Cédric Tiberghien, reagieren in den drei Sätzen der Sonate bis hin zum finalen Rondo ganz intuitiv aufeinander, sie eher poetisch und mit luftigem Strich, er griffig-erdverbundener, mit Hang zum Aufklärerischen. Aber trotz ihrer Länge wirkt Mozarts Sonate an diesem Abend nur wie ein Vorspiel zu den kurzen „Six Melodies“ von John Cage (1950). Zarte, verwehende Töne auf beiden Instrumenten, strikt vibratofrei, quasi ständig gegeneinander versetzt zu spielen, so dass sich Melodie nur als Reibung, als Resultat ineinanderlaufender Klangfarben materialisiert. Atemlos lauscht man, wie Ibragimova und Tiberghien hochkonzentriert aufeinander hören, als seien sie völlig allein auf dem Planeten, und wie das Ergebnis doch überhaupt nicht verkrampft klingt, vielmehr gelöst, fast hypnotisch dahinfließt. 

Expedition in die Natur

Selbst das übertreffen die beiden nach der Pause noch in den vier „Nocturnes“ von George Crumb, die oszillieren zwischen einer Reise ins Innere und einer Expedition in die Natur, in den nächtlichen Wald, ans Meer. Klangtropfen, waghalsige Intervallsprünge, in die Tiefe strebende Geigen-Glissandi, als würden Wale singen. Tiberghien steht aufrecht, greift beidhändig in den Korpus des Flügels, bearbeitet die Saiten, entlockt ihnen unerhörte Töne. Es ruckelt, grollt, grummelt, dann sanftes Rascheln, und der mächtige Steinway mutiert zum Cembalo. Dass das Klavier eben doch und vor allem ein Perkussionsinstrument ist, ist eine Binse – und doch ruft es dieser bemerkenswerte Nachmittag nochmal mit Nachdruck ins Gedächtnis. Mit dem vierten Stück, der überbordend emotionalen, dem individuellen Gefühl huldigenden Sonate für Violine und Klavier von Guillaume Lekeu, einem schrecklich jung mit 24 Jahren gestorbenen Schüler von César Franck, enthüllt sich endgültige die Dramaturgie: Während die kurzen, avantgardistischen Stücke von Cage und Crumb mit neuen musikalischen Ausdrucksformen experimentieren und gleichsam einen Blick in die Küche, in den Werkzeugkoffer gestatten, zeigen die beiden „ausgewachsenen“ Kompositionen von Mozart und Lekeu, was sich damit machen lässt. Vor allem Ibragimova findet jetzt, im Finale, mit einem Strich von dunkelsamtener Weichheit zu irrsinniger Kraft des Ausdrucks, die direkt vom Ohr ins Herz geht. Es ist, als würden Geige und Klavier, ineinander verwoben, in wortlosem Einverständnis in die Nacht tanzen.

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