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Kultur: Alle meine Leben

LITERATUR

Dieses Buch sollte man in zwei oder drei Zügen lesen, abends oder nachts, jedenfalls in Momenten, in denen es still um einen ist. „Tagebuch einer Annäherung“ heißt Ingrid Bachérs Buch „Sieh da, das Alter“ im Untertitel, und dieses Staunen ist Programm (Dittrich Verlag, Berlin 2003, 192 S., 17,80 €). Ingrid Bachér, 1930 als Urenkelin Theodor Storms in Rostock geboren, veröffentlicht seit Ende der Fünfzigerjahre Erzählprosa, Hörspiele und Reportagen, war Mitglied der Gruppe 47 und Mitte der Neunzigerjahre PEN-Präsidentin. Die vorliegenden Texte entstanden 2001 in Düsseldorf und Italien, wo Bachér heute lebt, sowie in Lübeck, der Stadt ihrer Kindheit. Bachér will die familiäre und soziale Konstellation ihres Alters verstehen. Sie zeichnet Sterbebilder ihr naher Menschen und betrachtet sie im Licht der Kostbarkeit des Lebens. Heimat sei kein Ort, zitiert sie eine ukrainische Emigrantin, „Heimat trägt man in seinem Körper und manchmal leuchtet sie.“ Bachér lässt den Leser teilhaben am Gespräch, das sie mit sich, mit Freunden und mit der Literatur (Lawrence, Frisch, Kertész) führt. Wenn sie dabei vom unverminderten sexuellen Verlangen erzählt und zugleich vom Moment des „Vorbei“ beim Blick in die Augen des Partners, wenn die Tage des 11. September sie zurückführen in die Bombennächte der Kindheit – dann gilt für Ingrid Bachérs Schreiben, was sie selbst über den Text eines Freundes sagt: „Unabgelenkt ist jeder Satz, wahrhaftig und unbeschwert von jeder Attitüde oder Sentimentalität" (die Autorin liest heute im Berliner Literaturforum , 20 Uhr).

Thomas Wild

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