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Kultur: Alle Schrecken dieser Welt

Das Ereignis des Sommers: Die Alte Nationalgalerie Berlin zeigt das rätselhafte Werk Goyas, des „Propheten der Moderne“

Heiterer Alltag empfängt den Besucher im Mittelgeschoss der Alten Nationalgalerie. Farbfrohe Tapisserien und Gemälde künden von jener Spätzeit des Absolutismus, da Adelige sich für das Leben des einfachen Volkes begeisterten; freilich wie durch eine Glasscheibe getrennt. Beim „Töpfeverkäufer“ und seinem auf dem nackten Boden ausgebreiteten Porzellan lassen sie die Kutsche vorbeifahren und blicken sehnsüchtig hinüber.

Francisco de Goya (1746-1828) hat dieses Bild 1778 gemalt – lange vor jenen düsteren Werken, die ihn zu einem der Gründerväter der Moderne geadelt haben. Die grandiose Ausstellung, die die Alte Nationalgalerie dem spanischen Nationalkünstler von heute an widmet, nennt ihn darum folgerichtig „Prophet der Moderne“. Tatsächlich haben sich, angefangen mit Edouard Manet, alle Vertreter der modernen Kunst vehement zu Goya bekannt.

Bis heute gehört es zu den Eigentümlichkeiten des Museumsbetriebs, dass Goyas Werk wohl bekannt, doch kaum zu sehen ist; es sei denn, man fährt nach Madrid zum Prado. Nun ist es der Nationalgalerie gelungen, in Zusammenarbeit mit dem Kunsthistorischen Museum Wien und dem federführenden Madrider Prado als Hauptleihgeber 80 Gemälde in Berlin zusammenzutragen. Goya in Deutschland, in einem bislang unerreichten Umfang: Da sich das spanische Nationalmuseum vom internationalen Leihverkehr lange Zeit fern hielt und die Retrospektive zudem mit Leihgaben aus stets diskretem spanischen Privatbesitz bestückt ist, kommt die Ausstellung einer Premiere gleich – und einer Sensation, dass sie in Berlin ihren Auftakt erfährt. Das unbestechliche Auge von PradoChefkonservatorin Manuela Mena bürgt dafür, dass die von ihr ausgewählten Werke von Goyas Hand stammen.

Was also den Besucher der Alten Nationalgalerie im ersten Hauptsaal in Bann schlägt, ist nicht der „moderne“ Goya. Er war ein Moderner avant la lettre; starb er doch vor aller Kunst-Moderne als 82-Jähriger im französischen Exil. In Berlin dominieren zunächst die friedlich-freundlichen Bilder des jungen Aufsteigers, dann im zweiten Hauptsaal die dunklen, von unvergleichlicher malerischer Delikatesse geprägten Porträts vornehmlich des Hochadels. Es sind die Bilder des Hofmalers, zu dem Francisco José de Goya y Lucientes nach zielstrebigem Aufstieg 1789 ernannt worden war. 1789? Es ist das Jahr der Französischen Revolution – und der tiefsten, auf Spanien lastenden Reaktion.

Goya malt die feudale Gesellschaft. Die Portraits des Königs Karl IV. und seiner energischen Gemahlin María Luisa – zwei von ihnen sind in Berlin zu sehen – gelten wegen ihrer die Karikatur streifenden Wiedergabe körperlicher Unzulänglichkeiten als subversiv. Indessen: Waren derlei Abweichungen vom menschlichen Idealbild nicht als physiognomische Merkmale der Bourbonen jedermann geläufig – und in einer Zeit, die von der Mühsal des Lebens wusste, durchaus selbstverständlich? Zur selben Zeit malt Goya die Vergnügungen des Adels, die – wie im ausgehenden Rokoko üblich – oft in der frivolen Nachahmung des „einfachen Lebens“ bestehen. Und im protobürgerlichen Naturgenuss wie in jenem zauberhaften „Sonnenschirm“ von 1777, einem Glanzpunkt der Ausstellung.

Goya hat vor seiner ersehnten Anstellung als – schließlich Erster – Hofmaler seit 1775 für die Königliche Teppichmanufaktur Vorlagen geliefert. Es sind farbenfrohe Alltagsszenen, die den schleichenden, gesamteuropäischen Umschlag von der erhabenen Historienmalerei zu den niederen, nun gesellschaftsfähigen Formen des Genres bezeugen. Fünf solcher Tapisserien, die immerhin Paläste schmückten, werden gezeigt, dazu knapp zehn Kartons, die Goya nicht als die eigenständigen Gemälde verstand, als die sie heute bewundert werden.

Doch Goya ist ein zutiefst Zerrissener. Unter der glanzvollen Oberfläche des Status und Einkommen genießenden Hofmalers wächst ein anderer, misanthropischer Künstler heran. Goyas Œuvre zerfällt in disparate Teile: das frühe und reife Werk bis zur napoleonischen Besetzung, das grafische Werk und schließlich das heillos verdüsterte Spätwerk aus der Zeit seiner Gebrechlichkeit und des Exils. Es sind die zeitgenössischen Historienbilder, die zu Goyas Ruhm als Maler-Revolutionär erheblich beigetragen haben, der Aufstand des „2. Mai 1808“ und die Erschießungen des noch berühmteren „3. Mai 1808“ – zwei Schlüsselbilder von 1814, die den Prado verständlicherweise nicht verlassen durften. Beide entstanden übrigens mit Unterstützung des erzreaktionären, grausamen Königs Ferdinand VII., den Goya – immer noch Hofmaler! – im selben Jahr portraitierte.

Doch da ist der Grafiker. Seine Zyklen gehören zum Berühmtesten – und handwerklich Besten –, was in den grafischen Medien je geschaffen wurde, die „Caprichos“ von 1797/99, die „Desastres de la Guerra“ von 1810/15 oder die „Disparates“ von 1799 mit dem zu Tode zitierten Blatt „Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer“. Ob Goya den Bildtitel im Sinne der Aufklärung verstand oder doch eher künstlerisch? Er selbst sagte einmal, „die von der Vernunft verlassene Fantasie erschafft unglaubliche Ungeheuer“ – solche, wie er selbst sie beständig ersann. Zu diesen Zyklen sind zahlreiche Vorzeichnungen zu sehen. Hierzulande war es Werner Hofmann, der 1980 zum Abschluss seiner epochalen Hamburger Ausstellungsreihe insbesondere Goyas Grafik in „Das Zeitalter der Revolutionen“ einbettete und damit das Bild vom Vorläufer der Moderne befestigte.

In seiner 2003 erschienenen Monografie indessen fasst Hofmann seine gereifte, bipolare Sicht zusammen, die von der Berliner Ausstellung nachdrücklich untermauert wird: „Er zeichnet und malt Parabeln, in denen er die menschliche Existenz in ihren unausweichlichen Verstrickungen, in ihrer schicksalhaftigen Fallsüchtigkeit aufzeigt.“

Das erlaubt, ja lässt eine Interpretation jenseits des marktschreierischen Berliner Ausstellungstitels offen. Es ist gerade die Ambivalenz, die diese – wohl auf lange Zeit unwiederholbare – Ausstellung sichtbar macht. Goya als den immer unerbittlicher werdenden Schilderer menschlicher Niedertracht zu erkennen, kommt seinem Werk näher als der Topos vom Wegbereiter der Moderne. Und ist nicht die Düsternis, die Goya malt, zeichnet und radiert, das unausweichliche Pendant zur (sic!) Aufklärung? Mit frühen Bildern wie den Bildnissen der Kirchenväter Gregor und Augustin von 1796/99 zeigt die Ausstellung doch, aus welchem geistigen Umfeld Goya erwuchs – dem der um die Zentralmacht der Inquisition herum gebauten katholischen Staatskirche. An ihr hat sich Goya zeitlebens gerieben, wie das späte Gegenstück der schauerlichen „Inquisitionsszene“ von 1808/14 belegt.

Das Menschenbild der Kirche, das den ewig fehlenden und fallenden Sünder vor Augen hat und die Erlösung im Jenseits, hat Goya geprägt. Glaube und Aberglaube gehören untrennbar zusammen. Goya zeigt an beidem als Teil eines von ihm erstmals erfassten spanischen Nationalcharakters tiefe Anteilnahme. Der amerikanische Kunstkritiker Robert Hughes hat in seiner lebensprallen Biografie Goyas das Spanien von 1800 ausgemalt. Und zweifellos ist es der Alltag von Adel, Klerus, Volk und, nach Napoleons Einmarsch 1808, unbeherrschbarer Gewalttätigkeit, die das widersprüchliche Werk Goyas zumindest plausibel macht.

Bei Goya fließen das Alte und das Neue ununterscheidbar zusammen, wie nicht nur das zum Emblem der Berliner Ausstellung gewordene Gemälde vom „Hexenflug“ von 1797/98 zeigt. „Es ist unmöglich“ – hat Charles Baudelaire später hellsichtig bemerkt –, „die Nahtstelle zwischen dem Wirklichen und dem Fantastischen zu fassen; es ist eine undeutliche Grenze, die selbst der subtilste Analytiker nicht ziehen könnte, so sehr ist die Kunst zugleich transzendent und natürlich.“

Anders gesagt: Die exzeptionell, zudem vorzüglich arrangierte Berliner Ausstellung unterläuft aufs Schönste ihr publikumswirksames Motto. Goya ist nicht „modern“ im Sinne einer Kunstentwicklung. Modern ist er im Verwerfen aller Glaubensgewissheiten, konservativ in der niederschmetternden Auffassung vom Menschen. Goya malt 1794 den „Hof der Irren“ als Parabel unaufhebbarer menschlicher Blödigkeit, 1800 das erschütternd realistische Bild „Bandit ermordet eine Frau“, 1808 gar „Kannibalen“ als höchste Steigerung dessen, wozu Menschen fähig sind. Goya ist der Maler des Schreckens. Wenn das unaussprechlich Schreckliche das Signum der Neuzeit ist, dann ist Goya nicht der Prophet der Moderne, sondern der Künder des modernen Alptraums schlechthin.

Alte Nationalgalerie, Museumsinsel, bis 3. Oktober. Katalog bei DuMont, Köln. 335 S., 20 €, im Buchhandel geb. 39,90 €. – Werner Hofmann: Goya. Vom Himmel durch die Welt zur Hölle. C.H.Beck, München 2003. 336 S., 78 €. – Robert Hughes, Goya. Der Künstler und seine Zeit. Blessing, München 2004. 446 S., 49,90 €.

Francisco José de Goya y Lucientes wurde 1746 in der Kleinstadt

Fuendetodos geboren. Er wächst inSaragossa auf, wo er zum Maler ausgebildet wird.

MADRIDER JAHRE

1774 zieht er nach Madrid. Ab 1775 liefert er Vorlagen für die Teppichmanufaktur, so den „ Sonnenschirm “ von 1777 (Abb.,Ausschnitt).

1789 wird er zum Hofmaler ernannt, 1795 zum Direktor der Königlichen Akademie, 1799 zum Ersten Hofmaler.

SPÄTE JAHRE

Bereits 1793 war er ertaubt. Nach 1800 entstehen zahlreiche Portraits von Königshaus und Hochadel. 1815 malt er sein „Selbstbildnis“ (Abb.). 1819 zieht er sich in sein „Landhaus des Tauben“ zurück. 1824 reist der Schwerkranke nach Frankreich, wo er am 16. April 1828 stirbt.

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