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Kultur: Allein unter Felsen

Im Kino: Danny Boyles oscar-nominiertes Bergsteigerdrama „127 Hours“

Amerika liebt Helden, die sich allein und unbeirrt auf den Weg machen. John Wayne, Gary Cooper und Clint Eastwood haben den Loner verkörpert, die Cowboyfigur eines radikalen Individualisten. Auch Aron Ralston ist solch ein Einzelgänger, doch sein Einzelgängertum wird ihm beinahe zum Verhängnis. Am Anfang von „127 Hours“ bricht Ralston, gespielt von James Franco, im Morgengrauen zu einer Outdoor-Expedition auf. Sein Schweizer Messer lässt er im Schrank liegen, und das „Bist du da?“ seiner Mutter, die auf den Anrufbeantworter spricht, ignoriert er. Niemand weiß, was er vorhat und wo er sein wird.

James Franco, der den Bergsteiger als übermütigen, beinahe kindsköpfigen Enthusiasten porträtiert, ist der eine Hauptdarsteller in Danny Boyles neuem Film. Der andere ist die überwältigende Natur im Hochland von Utah. Azurblau strahlt der Himmel über einer Steineinsamkeit mit rötlich schimmernden Plateaus und bizarren Felsformationen. Aber die märchenhaftesten Orte erweisen sich bei Boyle oft als Hölle, das war schon bei „The Beach“ und „Slumdog Millionär“ so. Ralston rast auf einem Mountainbike durch die Geröllwüste und stößt Jubelschreie aus, dann lässt er das Rad stehen und wandert weiter. Er hat dabei: einen MP3-Player, der ihn per Ohrstöpsel mit Indierock beschallt, eine an der Stirn zu befestigende Taschenlampe, eine Videokamera und Kletterseile. Kein Handy, kein Werkzeug.

Zwei junge Frauen begegnen dem Wanderer, sie baden in einem fantastischen, höhlenartig verborgenen See. Eine unwirkliche Szene, fast schon das Jenseits. Die Frauen laden ihn zu ihrer Party am nächsten Abend ein, sie flirten und verabschieden sich. Ralston erreicht sein Ziel, den Blue John Canyon, eine schmale, tief in den Berg hineingeschnittene Felsspalte. Seine Hände fahren über den Stein, als wollten sie ihn streicheln. Als er hineingeklettert ist, löst sich ein Felsbrocken und klemmt seine Hand ein. 127 Stunden, fünf Tage, werden vergehen, bis sich Ralston den Arm abschneidet, um sich zu befreien.

Boyle hat „127 Hours“ 2010 in Utah gedreht, genau dort, wo Ralston sieben Jahre zuvor seine Tragödie erlebt hatte. Der Film beruht auf dem Erinnerungsbuch des Bergsteigers, „Im Canyon“. Man sieht über eine Stunde lang einem Menschen zu, der gefangen ist. Keine gute Voraussetzung für einen Thriller, trotzdem ist „127 Hours“ genau das geworden: ein Actionfilm. Ralston versucht mit aller Kraft, den Fels zu bewegen, er hackt mit seinem Billigmesser – das er beim Kauf einer Lampe gratis dazubekommen hat – kleinste Brocken aus ihm heraus und improvisiert mit den Seilen einen Flaschenzug. Alles vergeblich.

Der Mann in der Klemme besitzt bloß eine halb volle Wasserflasche, als er sie umkippt, wird das zum Drama im Drama. Er fängt seinen Urin auf, um ihn zu trinken. Nachts wird es bitterkalt. Ralston ist allein mit seinen Ängsten und den Bildern in seinem Kopf. Daraus machen Danny Boyle und sein Drehbuchautor Simon Beaufoy großes Imaginationstheater. Ralston erinnert sich an seine Kindheit und eine Exfreundin, er spricht Botschaften auf seine Videokamera, wartet auf einen Raben, der jeden Morgen vorbeifliegt, und träumt von einer Sintflut. Die Grenzen zwischen Realität und Phantasma verschwimmen. James Franco verzichtet auf jede Verzweiflungsgeste, sein Spiel – für das er für den Oscar nominiert wurde – ist äußerst ökonomisch.

Als Ralston am Ende sein stumpfes Messer aufklappt, ist er bereit, den rechten Unterarm und sein altes Leben hinter sich zu lassen. „Ich brauche Hilfe!“, ruft er einer Gruppe von Wanderern zu, auf die er ein paar Kilometer vom Canyon entfernt trifft. Kein Mensch kann auf Dauer allein überleben, so lautet die etwas kitschige Botschaft des für sechs Oscars nominierten Films. Im Abspann sieht man Fotos des echten Aron Ralston. Er unternimmt jetzt Expeditionen im Polareis, sagt aber vorher immer, wohin er aufbricht.

CinemaxX, Titania, Cubix, Sony Center (OV), Hackesche Höfe (OmU), Kant Kino, Kino in der Kulturbrauerei, Moviemento, Rollberg (OmU), Colosseum

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